Das Erbe von Gezi
Genau zwei Jahre nach dem Gezi-Aufstand finden in der Türkei Parlamentswahlen statt, bei denen es lediglich noch um die Frage geht, ob die islamisch-konservative AKP wie in den vergangenen 13 Jahren weiterhin alleine regieren kann oder zum ersten Mal einen Koalitionspartner braucht. Aus dieser Perspektive gesehen ist es nicht besonders schwer, vom Scheitern der Gezi-Bewegung zu sprechen. Insgesamt kann man wenig Hoffnung auf linke und emanzipatorische Bewegungen setzen. Zwei weit verbreitete Irrtümer machen es schwer zu verstehen, wie die AKP herrscht und welche sozialen Bewegungen gegen das Regime von Recep Tayyip Erdoğan agieren.
Der erste Irrtum betrifft die Einschätzung der AKP. Während der ersten Regierungsjahre ab 2002 sahen viele Liberale und Linke die AKP, die sich als Gegenmacht zum alten Etsablishment inszenierte, als Verbündete bei der Demokratisierung der Türkei. Insbesondere das Streben der AKP-Regierung nach einem möglichst schnellen EU-Beitritt schien ein Hebel zu sein, um politische Reformen durchzusetzen. Die Hoffnung war, dass die EU demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards verlangen würde, die die AKP-Regierung erfüllen müsste, um den Beitrittskandidatenstatus zu erlangen. Es gab zwar schon damals kritische Stimmen, die auf die autoritären Tendenzen der AKP-Regierung hinwiesen und bemerkten, dass es der Europäischen Union eher um ihre politischen und ökonomischen Interessen geht als um die Umsetzung von Demokratie und Menschenrechte. Aber diese Stimmen fanden kaum Gehör und die AKP konnte offen repressiv gegen die Widersacher im Staatsapparat vorgehen. Die erste Repressionswelle setzte im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ab 2007 ein. Ihr Ziel waren kemalistische und nationalistische Politikerinnen und Politiker, Militär, Intellektuelle sowie Journalistinnen und Journalisten. Von Liberalen und Linken kam kaum Kritik, vielmehr wurde der AKP dafür applaudiert. Einwände gab es erst, als nicht mehr zu übersehen war, dass der Prozess nur dazu diente, Gegner der Regierung zu inhaftieren, und dass keine stichhaltigen Beweise für die vielfältigen Vorwürfe existierten. Ab 2009 kam es zu einer zweiten Repressionswelle, dieses Mal gegen vermeintliche Mitglieder der der PKK nahestehenden Organisation KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans). Im Rahmen dieser Schauprozesse wurden mehrere Tausend Menschen verhaftet. Diesmal traf es auch diejenigen Linken und Liberalen, die bis dahin die unrechtmäßigen Verfahren gegen Rechte und Nationalisten begrüßt hatten.
Erst dann wurden die unbegründeten Hoffnungen, die AKP werde demokratischer agieren als die Vorgängerregierungen, stillschweigend begraben und die Erzählung von der »moderat islamischen Demokratie« wurde eingetauscht gegen die Rede von der »islamistischen Diktatur«.
Während Liberale und Linke aus der Politik und den Medien zwischen Hoch- und Niederschreiben der AKP-Regierung pendelten, entwickelten sich in Bereichen, die bis dahin als Nebenschauplätze belächelt worden waren, starke soziale Bewegungen. Ihre Themenfelder sind sehr unterschiedlich. Es lassen sich aber grundsätzliche Ähnlichkeiten ausmachen, vor allem im Hinblick auf den Umgang mit den bisherigen linken Akteuren und dem AKP-Staat. Die Bewegungen konstituierten sich auf der Grundlage von konkreten Problemen in einem gesellschaftlichen Teilbereich. Versuche von linken Parteien, diese Bewegungen zu vereinnahmen, scheiterten in den meisten Fällen. Stattdessen führten sie dazu, dass sich die Parteien aus der Sicht der sozialen Bewegungen weiter diskreditierten. Ebenso waren Versuche der AKP-Regierung und der Opposition, diese Bewegungen im Machtkampf auf ihre jeweilige Seite zu ziehen, nicht erfolgreich. Die sozialen Bewegungen haben sich gegen die AKP-Regierung gestellt, wenn ihre Themenfelder berührt wurden. Die Gegnerschaft zur Regierung erwuchs nicht daraus, dass linke Parteien die Betroffenen gegen die Regierung agitieren konnten, sondern daraus, dass die Regierung die Stimme der Betroffenen nicht hören wollte.
Ähnlich ist es bei der Frauenbewegung. Erst durch die frauenfeindliche Rhetorik und reaktionäre Frauen- und Familienpolitik der Regierung, die etwa Abtreibungen de facto unmöglich gemacht hat, positionierte sich diese gegen die AKP. Dies bedeutet aber immer noch nicht eine automatische Präferenz für eine der Oppositionsparteien.
Mit dem Gezi-Aufstand 2013 wurden diese nicht parteipolitisch eingebundenen sozialen Bewegungen in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Wichtiger ist aber, dass mit dem Aufstand auch ein stärkerer Austausch zwischen den Bewegungen entstanden ist. Das Erbe von Gezi ist ein höheres Mobilisierungspotential der Bewegungen. Beispielhaft hierfür sind die Proteste nach dem Mord an der jungen Studentin Özgecan Aslan im Februar dieses Jahres. Während Morde an Frauen bis dahin kaum zu Unruhen geführt hatten, entstand diesmal aus Empörung ein handfester Protest.
Die Tendenz zur spontanen Bewegung und Selbstorganisation erstreckt sich inzwischen auch auf die klassischen Arbeitskämpfe. Nach einem unbefriedigenden Tarifabschluss im Automobil- und Metallsektor begannen Arbeiter in der Industriemetropole Bursa mit Arbeitskämpfen, die sich ausdrücklich auch gegen die eigenen Gewerkschaften richteten. Bis zu 20 000 Beschäftigte legten ihre Arbeit in wilden Streks nieder.Die Werksbesetzungen und Produktionsausfälle wurden begleitet von massenhaften Austritten aus der Gewerkschaft Türk-Metal. Der Dachverband Türk-İş, in dem auch die Metaller organisiert sind, ist traditionell regierungskonform und setzt nicht auf offensive Arbeitskämpfe. In Bursa bildeten sich im Mai Werkskomitees, die auch unabhängig von linken Gewerkschaften blieben und erfolgreich ihre Streiks durchführten. Selbstorganisierte Arbeitskämpfe in der Schwerindustrie unabhängig von linken Organisationen dürften in der Türkei ein Novum sein.
Da bereits vor der Wahl feststeht, dass nach der Wahl die AKP weiterregiert, stellt sich die Frage nach den Zukunftsperspektiven der sozialen Bewegungen. Die autoritäre und repressive Tendenz der AKP-Regierung macht es der Opposition immer schwerer. Auch soziale Bewegungen, die sich eigentlich nicht für Parteipolitik interessieren, sind gezwungen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sich die staatliche Repression abwehren lässt und ob es hierfür auch des parlamentarischen Kampfs gegen autoritäre Gesetze bedarf. Die neuen Sicherheitsgesetze sind exemplarisch hierfür, weil sie sich gegen jegliche regierungskritische Bewegung einsetzen lassen. Derzeit versucht sich die prokurdische HDP als Fürsprecherin der sozialen Bewegungen und stellt dazu passende Kandidatinnen und Kandidaten bei den Parlamentswahlen auf. Ob diese Vernunftehe zwischen einer politischen Partei und den diversen sozialen Bewegungen gelingt, ist noch offen. Es scheint aber, dass ohne starke Stimme im Parlament gegen die AKP-Regierung die sozialen Bewegungen immer weniger Möglichkeiten haben werden, legal und friedlich für ihre Forderungen zu kämpfen.