Der Roman »Kongo« von Éric Vuillard

Die Grausamkeit der Zivilisation

Der französische Autor Éric Vuillard widmet sich in seinem Roman »Kongo« den Schandtaten der belgischen Kolonialherren.

Im Jahr 1930 sind Tim und sein Hund Struppi ins damalige Belgisch-Kongo gereist, um eine Reportage über die Flora und Fauna der Kolonie zu verfassen. In »Tim im Kongo« lässt der belgische Comiczeichner Hergé den Reporter auf unterschiedlichste wilde Tiere treffen, auf belgische Missionare und selbstverständlich auch auf Kongolesen. Letztere werden als gutgläubige, unzivilisierte Wilde dargestellt, deren Vokabular sich auf wenige Worte beschränkt und die sich begierig auf die Errungenschaften der westlichen Zivilisation stürzen. Sie sind, ebenso wie der Kongo selbst, nur die Folie, auf der sich Tims Abenteuer entwickeln kann – Komplizen von Al Capone wollen die Kontrolle über die afrikanische Diamantenproduktion übernehmen –, das belgische Kolonialregime dagegen tritt mit Ausnahme eines Missionars nur am Rande auf.
Dass es den belgischen Reporter nach seinem antikommunistischen Ausflug ins »Lande der Sowjets« 1929 in seinem zweiten Abenteuer auf den afrikanischen Kontinent verschlug, war kein Zufall. Der Comic, der ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte in der Jugendbeilage der konservativen katholischen Zeitung Le Vingtième Siècle erschien, hatte den Auftrag, dem in der Weltöffentlichkeit in Verruf geratenen kolonialen Projekt Belgisch-Kongo bei den jugendlichen Lesern wieder Unterstützung zu gewinnen.
Der Kongo, fast 80mal so groß wie Belgien, war 1908 in den Besitz der kleinen konstitutionellen Monarchie gekommen, als König Leopold II. ihn nach über 20 Jahren der Privatherrschaft wegen der dort begangenen Gräueltaten an den Staat abtreten musste. Eine Kolonie als Privatbesitz eines Königs war selbst in der an Obskuritäten und Grausamkeiten nicht armen europäischen Kolonialgeschichte ein Unikat. Diesem Sonderfall hat sich der Franzose Éric Vuillard in seiner Erzählung »Kongo« angenommen, die nun auf Deutsch erschienen ist.
Ausgehend von Verhandlungen in Berlin, die 1884 bis 1885 unter dem Vorsitz Otto von Bismarcks geführt wurden und über das Schicksal des Kongo entscheiden sollten, dringt Vuillard, dem ebenfalls im Kongo angesiedelten Roman »Herz der Finsternis« von Joseph Conrad ähnlich, immer tiefer in die grausame Geschichte der europäischen Eroberungszüge in Afrika ein: Durch Foltermethoden, Zwangsarbeit, Verstümmelungen und Massenmorde kamen während der Herrschaft Leopolds II. zehn Millionen Menschen ums Leben, die Bevölkerung des Kongo wurde um die Hälfte reduziert.
Während jedoch Hergés Comic seinen Zweck der Propaganda jederzeit offenbart und Joseph Conrad seinen Lesern nichts von den Grausamkeiten und dem Wahn des europäischen Überlegenheitsgefühls erspart, weiß man bei der Lektüre von Vuillards »Kongo« in keinem Moment, welche Intention hinter seiner Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte steckt. Kritik und Anklage, selbstverständlich, aber das hatte der Zeitgenosse Mark Twain in seinem Pamphlet »König Leopolds Selbstgespräch« von 1905 bereits viel besser erledigt; und wer würde heute noch ernsthaft die mordenden belgischen Verwaltungsbeamten verteidigen, die ganze Dörfer niedermähen ließen, wenn ihre Bewohner die angeforderten Quoten an Kautschuk oder Elfenbein nicht erfüllen konnten.
Gleichzeitig bleibt das Gefühl, den Autor beim genüsslichen Referieren der begangenen Grausamkeiten beobachten zu können, die immer wieder in einen anbiedernden Kitsch kippen: »Doch diese Kinder haben einen Namen, ach, einen ganz kleinen Namen, wie Yoka, der kleine Junge aus Lyembe, dem die rechte Hand abgehackt wurde, oder Mola, der kleine Junge aus Mokoli, dessen Hände vom Wundbrand zerfressen sind. Sie sind da, mit ihren Kindergesichtern und dieser merkwürdigen Traurigkeit.«
Der literarische Kniff, die Perspektive und Sprache der Kolonisatoren zu benutzen, macht das Werk auch nicht lesbarer: »Also befiehlt Lemaire, alles niederzubrennen, er brüllt, und die Neger laufen und jaulen in ihren komischen Sprachen, aber Lemaire versteht nichts und pfeift drauf, er brüllt in seiner eigenen Sprache, man solle Fackeln in die Hütten werfen, alles zerstören, alles, alles, alles!«
Wenn »Kongo« literarisch wie auch politisch – »Neger« bevölkern fast alle Seiten des schmalen Büchleins – eine Katastrophe ist, bleiben lediglich die Fakten, das Gerüst von Vuillards Erzählung. Sie sind für sich genommen interessant genug, anderswo aber leichter, ohne kitschige Ausschweifungen, und ausführlicher zugänglich. Vuillard jedenfalls scheint bei Wikipedia nachgelesen zu haben, dass der sich über Monate hinziehenden Berliner Konferenz der Versuch Leopolds II. vorausging, über den Mittelsmann Henry Morton Stanley große Teile des Kongo-Beckens aufzukaufen und so bereits Fakten zu schaffen. Auf der Konferenz überzeugte er die anderen Teilnehmer von seiner Vision eines christlich missionierten Kongo, einer Kolonisierung im Dienste der Zivilisierung des Schwarzen Kontinents, ohne Sklaven und als Freihandelszone für Europa – auf eigene Kosten und ohne den lästigen politischen Verwaltungsapparat eines Staats. Und so wurde Leopold II. 1885 der größte Grundbesitzer der Welt, mit einer Privatfläche von 2,34 Millionen Quadratkilometern, die er in den nächsten 20 Jahren so weit wie möglich ausbeutete.
Bei Vuillard heißt es zu den Ambitionen des Königs: »Und dieser Staat sollte außerdem so groß wie möglich sein, und die Neger durften nicht die geringste politische Mitsprache haben, es wäre übrigens weniger ein Staat als eine Aktiengesellschaft; ja, war es nicht einfacher, wenn die Gesellschaften unter der Leitung kühner Geschäftemacher die Gebiete direkt ausbeuteten? Die Politik war für Leopold ein alter Schuh, ein Hindernis, Verschwendung!« So driftet das Buch durch die Gedankenwelten der Konferenzteilnehmer in Berlin und »kühnen Geschäftemacher« in Belgisch-Kongo, durch deren Gärten und Schlösser, durch ihre Ängste und Kümmernisse und schließlich die Traumata, die sie mit zurück nach Europa brachten, nachdem sie Hunderttausende hatten umbringen lassen.
»Manchmal hätte Fiévez gerne über Bord gehen, sich ins Meer stürzen, untergehen wollen, untergehen dank der Last seiner unermesslichen Verzweiflung.« Auf Léon Fiévez geht der Befehl zurück: für jede Kugel eine rechte Hand. So sollte sichergestellt werden, dass die Soldaten mit ihrer Munition nicht auf die Jagd gingen, denn Schwarze durfte man, im Gegensatz zu den Tieren, so viele töten, wie man für nötig hielt, Mord war in Belgisch-Kongo die reguläre Währung der Verwaltungsgesellschaften. Der Befehl hatte zur Folge, dass immer mehr Kongolesen mit nur noch einer Hand leben mussten. Die Frauen ganzer Dörfer wurden als Geiseln gehalten, vergewaltigt, ausgepeitscht, und schließlich umgebracht, wenn die Männer nicht genug Kautschuk abliefern konnten.
Als das Treiben der Aktiengesellschaften unter Leopold II., der den Kongo niemals persönlich betreten hat, bekannt wurde, entstand eine weltweite Diskussion über die »Kongo-Gräuel«, in deren Folge der König das Land schließlich an den belgischen Staat abtreten musste. Unter den etwas verbesserter Verhältnissen einer sogenannten regulären Kolonie wurde das Land nun von der belgischen Autorität ausgebeutet und blieb bis 1960 unter belgischer Verwaltung.
Das brutale Wirken Leopolds II. ist in Belgien bis heute ebenso ein Tabuthema wie die nachfolgende koloniale Besatzung durch Belgien. Man kann etwa das »Königliche Museum für Zentralafrika« in Tervuren besuchen, ohne dort über das Regime des Königs aufgeklärt zu werden. Ob ein Buch wie Vuillards »Kongo« allerdings geeignet ist, diese Leerstelle in der belgischen Geschichtsschreibung zu füllen, darf bezweifelt werden. Als Leser dieses Werks betritt man zwar die Gedankenwelt des Kolonialismus, erfährt die Monstrosität des europäischen Überlegenheitsgefühls, aber Vuillard verheddert sich derart in seinem Versuch, der Welt der Schreibtischtäter und der Verwaltungsbeamten an Ort und Stelle Leben einzuhauchen, dass der Kongo letztlich gar keine Rolle spielt. Seine Kritik an der Berliner Konferenz, bei der weiße Männer über das Schicksal von Millionen Kongolesen entschieden haben, fällt zurück auf den Autoren, wenn am Ende vom Schicksal dieser Millionen Toten beim Leser nicht mehr hängenbleibt als einige Splatter-Bilder und Betroffenheitskitsch.
Konsequent endet »Kongo« mit dem tragischen Ende des tausendfachen Mörders Fiévez, der im Fieberwahn dahinsiecht und in seinen kruden Gedanken den Inhalt des Buches wohl am genauesten auf den Punkt bringt: »Obstschale, Elfenbein, Pinselborste! Lass mich dir ein Klümpchen Lächeln abluchsen, lass mich dich filzen, damit ich ein bisschen lebe in meinem Grab (…) ; und während die Würmer mir die Flügel zurechtstutzen, möchte ich bitte eine halbe Sekunde deine Aga-Krötenfresse in deinem Kürbisprofil angaffen, die gekreuzigten Arme auf deinem Yams! Waber! Kongo!«
So weit Vuillards Beitrag zur postkolonialen Theorie. »Das Grauen! Das Grauen!« legte Joseph Conrad in »Herz der Finsternis« seinem sterbenden Elfenbeinhändler Kurtz als letzte Worte in den Mund und formuliert damit die Essenz des belgischen Beitrags zur Kolonialgeschichte, woran Eric Vuillard auf seinen 100 bemühten Buchseiten scheitert.

Éric Vuillard: Kongo. Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2015, 110 Seiten, 16,90 Euro