»Ausprobiert«, die Serie über Sportarten, Teil 11: Fußball

Das Trauma ist rund

»Ausprobiert«, eine Serie über Sportarten, die unsere Autorinnen und Autoren als Kinder geliebt oder gehasst haben – oder die sie schon lange im Fernsehen faszinieren. Teil 11: Fußball. Vier erzielte Tore als Lebensbilanz und eine solide Abneigung gegen die Sportart – aber trotzdem Schalker sein, das geht.

Es war jeden Samstag das Gleiche: Die Familie versammelte sich im Wohnzimmer um den Fernseher und wartete gebannt auf den Anfang der »Sportschau«. Ein Mann namens Ernst Huberty führte durch das Programm, es waren die siebziger Jahre und in der Bundesliga kämpften Bayern München und Borussia Mönchengladbach mit nahezu derselben Inbrunst um die Vorherrschaft wie der Vietcong und das US Marine Corps in Vietnam.
Es waren bittere Samstage für mich, denn während meine Familie gebannt 22 jungen Männern in kurzen Hosen dabei zuschaute, wie sie hinter einem Ball herliefen, litt ich schlimmste Qualen. Nicht nur, dass ich mich nicht für Fußball interessierte. Parallel zur »Sportschau« lief auf dem zweiten Programm »Raumschiff Enterprise«. Und einen zweiten Fernseher gab es nicht. Sehr früh lernte ich die Bedeutung des Satzes von Vince Ebert, dass Demokratie bedeute, »dass zehn Füchse und ein Hase darüber abstimmen können, was es zum Abendessen gibt«. Die Abenteuer von Spock und Kirk durfte ich nur in der bundesligafreien Zeit sehen.
Mit dem heiligen Trotz eines Siebenjährigen schwor ich mir damals, dass, sollte ich jemals die Verfügungsgewalt über ein Fernsehempfangsgerät besitzen, darin niemals Fußball zu sehen sein wird. Als es dann endlich soweit war, hielt ich dieses mir selbst gegebene Versprechen weitgehend ein. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert.
Doch nicht nur medial aufbereiteter Fußball machte mir Kummer. Bis zu meinem 20. Lebensjahr schoss ich genau zwei Tore – in einem einzigen Spiel auf einem Gladbecker Hinterhof. Eine Leistungsexplosion, obwohl ich, wie schon beim Schulsport, natürlich als letzter in die Mannschaft gewählt worden war.
Ich mochte dieses Spiel nie und ich mochte diejenigen nicht, die es mochten. Ich liebte es, Buden zu bauen und mit Holzstöcken als Gewehrimitaten durch das Gebüsch zu robben, ich fuhr gerne Rad, schwamm im Sommer viel und genoss jede Rauferei. Einem Ball auf einem Feld hinterherzulaufen, war für mich der Gipfel der Sinnlosigkeit. Am schlimmsten war, dass man geschickt foulen können musste. Wenn ich jemanden umhaute, war es sofort unsportlich und ich bekam Ärger. Brachte mich jemand geschickt zu Fall, war es ein Trick und ich der Trottel mit dem Rasen zwischen den Zähnen. Zur Sinnlosigkeit gesellte sich das Gefühl, in diesem Spiel der geborene Verlierer zu sein.
Das änderte sich auch nicht, als ich in den späten achtziger Jahren Mitglied einer Thekenmannschaft wurde. Die Idee zu unserer nach dem Gladbecker Stadtwald benannten Mannschaft »Partisan Wittringen« war uns in unserer Stammkneipe »Dietzel« gekommen.
Irgendwer war der Meinung, wir sollten mehr Sport machen. Im Kern ging es um eine verfrühte Midlife-Crisis: Keiner von uns war damals älter als 25.
Jeden Sonntag trafen wir uns fortan auf der Haschwiese im Gladbecker Stadtwald und spielten zwei Stunden Fußball. Auch wenn es zwei Jahre dauern sollte, bis ich wieder Tore schoss – wie bereits zuvor zwei in einem Spiel, was meine Tor-Lebensleistung auf bis heute vier erhöhte –, machte es Spaß. Zumindest am Anfang. Wir kickten verkatert die Bälle durch die Gegend, fielen über unsere eigenen Beine und machten bella figura vor den lethargischen Hippies. Dass ich mir einmal den kleinen Finger brach, nachdem ich über meine eigenen Füße gestolpert war, änderte nichts an dem Vergnügen.
Irgendwann wurde es dann aber ernst. Wir beschlossen, an einem Turnier teilzunehmen, und hatten zwei Monate Zeit, uns darauf vorzubereiten. Der Ehrgeiz war geweckt, zumindest bei ein paar von uns. Top-Spieler aus dem Bekanntenkreis wurden in die Mannschaft geholt, darunter einer der Kiffer von der Hasch-wiese, der angeblich früher mal mit Lars Ricken in der Westfalen-Auswahl gespielt hatte. Wir bekamen einen Trainer, der schon im Iran Erfahrung gesammelt hatte, und verpflichteten uns, die Woche über zwei Mal zu joggen. Der Kondition wegen. Wir absolvierten auf dem Ascheplatz hinter der Ruhr-Uni ein Testspiel gegen eine Hobby-Mannschaft von Opelanern, die zwei Kisten Bier tranken, während sie uns abfertigten. Der Trainer griff durch, die eine Hälfte von uns Partisanen flog aus der Mannschaft und unter ihnen war natürlich ich. Das Turnier, das, soweit ich mich erinnern kann, in einer Turnhalle in Lünen stattfand, endete, obwohl ich nicht mitspielen durfte, in einer Katastrophe: In zehn Minuten traf der Gegner 14 Mal – nur die Regeln der Physik verhinderten eine noch größere Schmach. Drei Spiele gab es, bevor Partisan Wittringen aus dem Turnier schied. Die beiden letzten habe ich mir nicht einmal mehr angeschaut und die anderen haben später auch nie mehr darüber geredet.
Etwas früher hatte allerdings meine Annäherung an den Profi-Fußball begonnen. Ich absolvierte Mitte der achtziger Jahre meinen Zivildienst in der Sozialstation Schalke der Arbeiterwohlfahrt Gelsenkirchen an der Grenzstraße. Dazu gibt es eine Geschichte mit dem Schalke-Idol Ernst Kuzorra, der dem König von Schweden der Legende nach einmal Nachhilfe in Geographie erteilte. König von Schweden: »Wo liegt Gelsenkirchen?« Ernst Kuzorra: »Bei Schalke?« König von Schweden: »Wo liegt denn Schalke?« Ernst Kuzorra: »Anne Grenzstraße, Majestät!«
Ich fuhr während meines Zivildienstes in die Wohnungen von Senioren, lernte Flure in unter fünf Minuten zu putzen und holte im Winter die Kohlen aus dem Keller hoch. Ab und an trank ich einen Korn mit meinen Omas und Opas. Es war nett. Ich begann am Samstag den Fußballbericht zu hören, weil ich wissen wollte, wie es meinen Leuten am Montag gehen würde. Siegte Schalke, waren vom nahen Tode gezeichnete Menschen glücklich, verlor Schalke, verwandelten sich rüstige und lebenslustige Senioren in tattrige Greise. Mitte der achtziger Jahre war Schalke eine Fahrstuhlmannschaft. Viele Montage waren entsprechend bitter. Und wie das so ist: Nach ein paar Monaten fing ich an, mich zu freuen, wenn die Schalker gewonnen, und mich zu ärgern, wenn sie verloren hatten.
Das Spiel fand ich zwar immer noch sterbenslangweilig, aber ich wollte, dass Schalke gewinnt, und mochte vor allem das Drumherum: die damals schon kaputte Stadt Gelsenkirchen, die nichts anderes als diesen Verein hatte, die Leidenschaft der Menschen, die für ihn lebten, die ganzen Geschichten. Daran hat sich bis heute nichts verändert. Ich bin Schalker, ohne mich für Fußball zu interessieren. Manche sagen, das mache es einfacher. Aber als jemand, der in Gelsenkirchen-Horst im selben Krankenhaus wie Olaf Thon geboren wurde, habe ich irgendwie auch ein Recht darauf.