Sprachtherapie

»Ich bin euer Therapeut!« Wenn ein Vater diesen Satz zu seinen Kindern sagt, dann muss etwas grundsätzlich falsch laufen im familiären Zusammenleben – oder aber unglaublich richtig. In Antonia Baums zweitem Roman mit dem prätentiös-sperrigen Titel »Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren« ist es Theodor, dem dieser Satz über die Lippen kommt. Theodor hält gern Ansprachen. Über Bürgerlichkeit und Anarchismus, über die Notwendigkeit des Drängelns auf der Autobahn, über Sinn und Unsinn des Lebens. Er ist Arzt, Geschäftemacher und Lebenskünstler. Und er ist verschwunden. Johnny, Clint und Romy, seine drei erwachsenen Kinder, nehmen dies zum Anlass, sich in der verlassenen väterlichen Wohnung zu treffen und sich auf die Suche zu machen.
Schnell wird klar: Es ist eine Suche nach der eigenen Kindheit, die der Vater, gleichsam als Zentralgestirn und Leerstelle, vollkommen ausfüllt.
Auf zwei ineinander verschachtelten Zeitebenen erzählt Baum eine Coming-of-Age-Geschichte quasi in umgekehrter Chronologie. Freunde spannender Plots kommen dabei eher nicht auf ihre Kosten. Freunde sprachmächtiger Realitätsamalgamierung dafür umso mehr. Vielleicht finden wir hier die letzte Zuckung des Pop in der Literatur, der die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern sie in seinem Redefluss als Möglichkeitsraum erst ausformulieren will.

Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren. Hoffmann & Campe, Hamburg 2015, 400 Seiten, 22 Euro