Luz Marina Porras bernal im Gespräch über Staatsverbrechen in Kolumbien

»Alle wussten, was im Land passiert«

Die Fälle der sogenannten falsos positivos gehören in Kolumbien zu den schlimmsten Staatsverbrechen der letzten 15 Jahre. Tausende Zivilisten wurden vom Militär verschleppt, ermordet und als tote Guerilleros präsentiert, um die Statistiken im Krieg gegen die Guerillagruppen aufzubessern. Ein Ende Juni erschienener Bericht von Human Rights Watch untersucht die Fälle zwischen 2002 und 2008 und belegt die Verwicklung ranghöchster Generäle. Luz Marina Porras Bernal kämpft seit sieben Jahren als Mitglied der »Madres de Soacha« (Mütter von Soacha) gegen die Straflosigkeit für die Mörder. Ihr Sohn war einer der 19 jungen Männer, die 2008 in der Stadt Soacha in der Provinz Cundinamarca von der Armee verschleppt und ermordet wurden. Sie ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Widerstands und nahm an den Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla Farc im kubanischen Havanna teil.

Als die Mütter Ihrer Gruppe 2009 an die Öffentlichkeit gegangen sind, um für den Ruf ihrer Söhne zu kämpfen, wollte niemand sie hören. Der Staat und die kolumbianischen Medien leugneten die Taten und führten Schmutzkampagnen gegen ihre Söhne. Heute haben fast alle Medien von den Fällen berichtet, es gab Prozesse und Verurteilungen. Fühlt sich das für Sie an wie ein Erfolg?
Der Prozess war nicht einfach und vor allem ist es nicht nur ein Kampf für Gerechtigkeit in den 19 Fällen von Soacha, sondern für ein ganzes Land. Es geht um über 5 700 Fälle und wir stehen stellvertretend in der Verantwortung für ein ganzes Land, diese Ungerechtigkeit immer wieder anzuprangern. Es war sehr hart, wir werden verfolgt und erhalten Morddrohungen. Natürlich haben wir Erfolge erzielen können, doch leider muss man auch sagen, dass es bis heute nur bei einem der 19 Fälle von Soacha zu einem Gerichtsurteil kam.
Also fühlt es sich auch nach sieben Jahren Kampf noch so an, als stünden Sie erst am Anfang?
Man kann sagen, dass wir einige kleine Schlachten gewonnen haben, aber eine wirkliche Genugtuung hätten wir erst, wenn es in allen Fällen ein Gerichtsurteil geben würde und vor allem, wenn der Staat seine Verbrechen zugibt. Und auch heute noch gibt es Fälle von falsos positivos. Es ist ein System, das trotz allem immer noch besteht und nie aufgehört hat.
Sie haben von Verfolgungen und Morddrohungen gesprochen. Welche Rolle spielt die Angst heute in Ihrem Leben?
Die Morddrohungen haben 2009 angefangen, am größten ist natürlich die Angst, auch die anderen Kinder zu verlieren. Im Zuge der Drohungen wurde auch der zweite Sohn einer Freundin der »Madres de Soacha« ermordet. Wir haben deshalb unsere Kinder von zuhause weggeschickt. Doch für mich gab es trotzdem keine Alternative. Ich kann entweder schweigen oder mich der Situa­tion und dem Risiko stellen. Ich habe das Risiko gewählt, habe gewählt, die Verbrechen weiterhin anzuprangern, denn wenn niemand die Wahrheit ausspricht, wird es immer weitergehen.
Sie arbeiten viel mit Künstlern zusammen. Welche Rolle spielt für Sie die Kunst im Widerstand?
Die Kunst hat für mich die größte Kraft von allem, durch die Kunst können die Menschen den Schmerz und die Traurigkeit ein bisschen besser verstehen. Wenn wir zum Beispiel auf der Bühne stehen und in einem Theaterstück die Geschichte unserer Söhne erzählen, ist es in diesem Moment etwas, dass direkt aus unseren Herzen kommt. Es ist für uns sehr traurig und schmerzhaft, aber auf diese Weise lassen wir die Zuschauer sehr unmittelbar an unserer Realität teilnehmen.
Ende Juni hat Human Rights Watch einen neuen Bericht vorgelegt und neue Beweise für die Verwicklung von etlichen hochrangigen Generälen in die Fälle präsentiert. Präsident José Manuel Santos hat den Bericht entschieden zurückgewiesen, mit den Worten, er werde die Generäle »bis ins Grab« verteidigen. Was denken Sie über seine Reaktion?
Natürlich reagiert er so, er muss dem Militär sagen: »Vertraut mir, ich werde euch beschützen.« Er reagiert so, weil er nicht will, dass die Militärangehörigen reden, weil er nicht will, dass sie seinen Namen im Zuge der Ermittlungen nennen. Deshalb kämpft er auch gegen die Opfer des Konflikts und hat die Ausweitung der Militärgerichtsbarkeit eingeführt. Er handelt offensichtlich aus Angst.
Sie sprechen die Ausweitung der Militärgerichtsbarkeit an. Präsident Santos erreicht mit diesem Gesetz, dass wesentlich mehr der von Soldaten begangenen Verbrechen vor internen Militärgerichten verhandelt werden. Was halten Sie von dieser Strategie?
Die Einführung des Gesetzes ist ein Betrug an den Opfern. Vor allem, weil dieses Gesetz es ermöglichen wird, dass die meisten Fälle der falsos positivos weiterhin straffrei bleiben. Santos versucht, diese Realität zu vertuschen und eine wirkliche Aufarbeitung zu verhindern, damit sein Name nie mit den Taten in Verbindung gebracht werden kann.
Denken Sie, Santos trägt eine direkte Verantwortung?
Ja, natürlich trägt er Verantwortung, genauso wie der damalige Präsident Uribe. Es gab zu dieser Zeit ja auch schon viele Menschen, die im Kongress auf die Fälle aufmerksam machten. Alle wussten, was im Land passiert, die Soldaten erhielten Belohnungen und wurden befördert. Santos wusste, dass es dieses System gibt, ohne etwas zu unternehmen.
Im Gegensatz zu Santos gibt es gegen den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und viele seiner Vertrauten Ermittlungen. Denken Sie, es wird irgendwann zu einer Verurteilung kommen?
Wir denken, dass es möglich ist, wenn wir weiter seine Verantwortung für viele der Verbrechen in seiner Amtszeit aufzeigen. Denn schon heute werden nicht nur seine Verbindungen zu den Fällen der falsos positivos untersucht, sondern es geht auch um Massaker, um die Ermordung von Bürgermeistern und um die massive Vertreibung von Indigenen, Bauern und Afro-Kolumbianern. Ich hoffe, eine Verurteilung noch vor meinem Tod erleben zu können.
Sie wurden vergangenes Jahr ausgewählt, als eine von zwölf Personen die Opfer des Konfliktes bei den Friedensverhandlungen in Havanna zu repräsentieren, und haben an den Verhandlungen teilgenommen. Wie groß ist Ihr Einfluss?
Zuallererst bin ich zufrieden und ich denke, dass wir eine wichtige Rolle spielen konnten und wichtige Forderungen gestellt haben. Anderseits müsste es mehr Austausch zwischen den Repräsentanten am Verhandlungstisch und uns geben, damit wir wissen, wie viele der Forderungen überhaupt diskutiert werden. Bisher wurden nur zwei unserer Punkte in die Agenda aufgenommen: die Forderung nach einem Waffenstillstand, den die Farc für einige Monate einseitig umgesetzt haben, und die Entfernung der Landminen, die jetzt wirklich beginnt. Wir bräuchten ein zweites Treffen, in dem man uns aus erster Hand informiert, ob die Verhandler unsere anderen Vorschläge überhaupt besprechen.
Weder die Farc noch die Regierung haben ihre systematischen Verbrechen eingestanden. Wie groß ist die Angst, dass beide Delegationen den Prozess nutzen, um am Ende straffrei bleiben?
Die Angst ist natürlich groß. Während meiner Teilnahme am Friedensprozess hat die kolumbianische Regierung mitnichten ihre Menschenrechtsverletzungen zugegeben und erst recht nicht die Verbrechen an den falsos positivos. Die Delegation der Farc bat uns hingegen um Vergebung. Ich glaube, dass es durch diesen Prozess weitreichende Straffreiheit geben wird, vor allem auf der Seite des Staates.
Denken Sie, ein Frieden mit Straffreiheit ist überhaupt möglich?
Nein. Für mich bedeutet Frieden, den verursachten Schaden einzugestehen und dazu beizutragen, dass sich das nicht wiederholen wird. Die Straflosigkeit in Kolumbien ist enorm und wird enorm bleiben.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Frieden ist Versöhnung. Könnten Sie sich vorstellen, den Verantwortlichen in Ihrem Fall zu verzeihen?
Um ehrlich zu sein, habe ich nie darüber nachgedacht. Vor allem, weil die Wunde in meinem Herzen noch immer klafft und blutet. Wir hatten nie eine psychologische Betreuung nach dem Verlust unserer Söhne, wir waren nicht darauf vorbereitet, und genauso wenig sind wir jetzt darauf vorbereitet, den Tätern zu vergeben. Wie könnte ich einer Person verzeihen, die ihre Taten nie eingestanden hat? Um verzeihen zu können, müsste zuerst die vollständige Wahrheit ausgesprochen werden, müssten die Taten vollständig anerkannt werden.
Sie glauben, dass die Straflosigkeit bestehen bleiben wird, sehen keine Voraussetzungen für eine Versöhnung, sprechen aber trotzdem oft von Ihrem Traum eines anderes Landes. Was gibt Ihnen Hoffnung?
Ich denke, es gibt Hoffnung, wenn wir unseren Kampf weiterführen und uns weiter gegenseitig unterstützen, wenn wir weiter für unsere Rechte kämpfen, weiter für unseren Traum eines neuen Landes einstehen. Es wird nicht einfach und seine Zeit dauern. Wir wurden hier hineingeworfen durch den Tod unserer Familienmitglieder und jetzt kämpfen wir für einen so wichtigen Frieden. Für unsere Enkel und die Enkel unserer Enkel. Sie sollen nicht auch in diesem absurden Krieg aufwachsen. Unser täglicher Kampf ist ein Kampf für die Erinnerung, für die Wahrheit und für das Recht der nach uns kommenden Generationen, in Würde zu leben.