Berlin Beatet Bestes. Folge 302

Einer muss es machen

Berlin Beatet Bestes. Folge 302. Herräng Dance Camp 2015.

eden Sommer fahren meine Freundin und ich für mehrere Wochen ins schwedische Herräng. Seit über 30 Jahren kommen in dem kleinen Küstendorf Tausende beim größten Swing-Tanz-Camp der Welt zusammen. Lennart Westerlund, Mitbegründer und Papa Schlumpf des Camps, war im vergangenen Jahr von allen Ämtern zurückgetreten und hatte Herräng verlassen. Jemand hatte auf dem Gelände Flyer abgelegt, die ihn bezichtigten, die rechtspopulistische schwedische Partei Sverigedemokraterna und die schwedischen Nazis zu unterstützen. Natürlich war der Vorwurf nichts anderes als Rufmord. Nazis machen sich nicht die Mühe, sich jahrzehntelang für afroamerikanische Kultur einzusetzen. Dennoch war dieses Ereignis verletzend genug, um Lennart Westerlund zu vertreiben. Als meine Freundin und ich zurück nach Berlin fuhren, schien das Camp in eine ungewisse Zukunft zu schlittern.
»Na, dann finde mal raus, wie es weiterging. Das wollen wir natürlich wissen«, meinte die verantwortliche Redakteurin der Jungle World, als ich ankündigte, dieses Jahr wieder nach Herräng zu fahren. Mit diesem Auftrag stapfte ich also vor einigen Tagen in den zweiten Stock des Folkets Hus, des umgebauten Gemeindezentrums, und klopfte an die Bürotür von Lennart Westerlund. Etwas schüchtern öffnete ich und wurde wortlos hereingewunken. Lennart erwartete mich, aber jetzt sahen wir uns erst einmal gemeinsam mit drei weiteren Board-Mitgliedern auf einem riesigen Bildschirm die Übertragung der »Blues Opening«-Show an, die zeitgleich ein Stockwerk tiefer aufgeführt wurde. Angespannt wartete ich auf einem Beitisch in der Ecke. Schließlich verabschiedeten sich die drei und Lennart bat mich an seinen Schreibtisch. Ich hatte nur zwei Fragen: Warum er zurückgekommen war und ob er irgendetwas verändern wolle.
Der Grund für seine Rückkehr ist denkbar einfach. Niemand konnte seinen Platz einnehmen. Die anderen Mitbesitzer des Camps sind entweder beruflich zu stark eingebunden oder haben Familien. Niemand ist bereit, sein ganzes Leben dem Herräng Dance Camp zu widmen und ein volles Jahr mit den Vorbereitungen zu verbringen. Für Veränderungen war zu wenig Zeit, jetzt läuft das Camp zunächst weiter wie zuvor. Ein Plan zur Umgestaltung steht aber für 2016 bereits fest.
Der hagere 57jährige Lennart wirkt müde, als er mir seinen randvollen Terminplan zeigt. Mit zurückhaltendem Charme beschreibt er die Gratwanderung zwischen dem erzieherischen Auftrag und dem exzentrischen Charakter des Camps. Seine konsequente Haltung beeindruckt mich. Ich stelle fest, dass ich ein Lennart-Westerlund-Fan bin, jetzt noch mehr als früher. Wir plaudern noch eine Weile über Musik, bis ich mich plötzlich verabschieden muss. Ich will noch duschen und mich umziehen, denn ab zwei Uhr lege ich als DJ Ironing Board auf. Bis vier Uhr habe ich den Raum leergespielt. Wie jedes Jahr. Während ich auflege, denke ich an Lennart, der sagte, dass er diesen Stress eigentlich nicht brauche, er habe ein reiches, erfülltes Leben. Dafür, dass er ihn dennoch auf sich nimmt, bin ich ihm dankbar.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.