Ein Deutscher an der Spitze der US-Charts

Wir sind Platz eins

Das hat die Welt seit 26 Jahren nicht erlebt: Ein Deutscher an der Spitze der US-Charts! Wenn’s der Nation dient, gilt der Remix selbst im Mainstream endlich als eigenständige Kunstform.

Die »erste deutsche Nummer eins in den USA seit Milli Vanilli«! Nicht nur für den Kölner Express war die Sachlage klar, zahlreiche deutsche Medien feierten in den vergangenen Tagen den 21jährigen Felix Jaehn aus Mecklenburg-Vorpommern für seinen Remix von »Cheerleader«, einem Song des jamaikanischen Sängers OMI. Endlich gab es zwischen griechischer Schuldenkrise, Erdoğans Kurdistan-Feldzug und den alltäglichen rassistischen Ausschreitungen an der Heimatfront mal wieder etwas Positives zu berichten.
Tatsächlich ist der Erfolg des Songs bemerkenswert. Nummer eins der US-amerikanischen Billboard-Charts, Nummer eins der Downloadcharts in mindestens 50 Ländern – mehr als beachtlich für einen Remix, den ein bis dato völlig unbekannter DJ von einem Song eines kaum bekannteren Sängers angefertigt hat. »Cheerleader« als einen deutschen Erfolg zu verbuchen, scheint hingegen etwas vermessen.
OMI, mit bürgerlichem Namen Omar Samuel Pasley, hat den Song angeblich 2008 geschrieben, aufgenommen und veröffentlicht wurde er 2012. Nicht unerheblich für den Erfolg, den »Cheerleader« zumindest auf dem lokalen Markt in Jamaika hatte, dürfte die Beteiligung von Clifton Dillon sein, einem erfahrenen Produzenten, der seit den späten achtziger Jahren mitmischt in Sachen jamaikanische Popmusik. Zuletzt machte er vor allem als Produzent des italienischen Reggaesängers Alborosie von sich reden. Sein zweifellos größter Erfolg allerdings war 1988 »Mr. Loverman« von Shabba Ranks, an dem er ebenfalls als Produzent beteiligt war.
Die Idee, einen Remix von »Cheerleader« anfertigen zu lassen, stammte weder von OMI noch von Dillon, sondern von den Verantwortlichen des New Yorker Labels Ultra Music, das unter anderem bei den Karrieren von David Guetta, Steve Aoki und Deadmau5 die Finger mit im Spiel hatte. Der New York Times zufolge war es Labelchef Patrick Moxey selbst, der den Song entdeckte und schließlich Anfang 2014 zwei Remixe in Auftrag gab – einen davon bei Felix Jaehn. Dass ein so gut wie namenloser Jungspund aus der norddeutschen Tiefebene den Auftrag bekam, wird Tom Keil zugeschrieben, dem Europachef von Ultra Music. Warum der gerade Jaehn beauftragte, wird wohl auf ewig sein Geheimnis bleiben.
Viel interessanter ist ohnehin, wie der Erfolg von Jaehns Remix derzeit in den Medien dargestellt wird. Während in den USA fast durchgehend von einem Hit des jamaikanischen Sängers OMI die Rede ist und Felix Jaehn meist nur am Rande erwähnt wird, ist es in Deutschland genau umgekehrt. Hier wird der weiße Milchbubi aus einem kleinen Ort bei Wismar zum Superstar verklärt, dem sogar Außenminister Frank-Walter Steinmeier via Facebook gratuliert, während OMI nur nebenbei und Clifton Dillon gleich gar nicht erwähnt wird.
Dass Jaehns Erfolg nicht nur im Express ausgerechnet mit dem von Milli Vanilli verglichen wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es wirft aber auch interessante Fragen danach auf, wer eigentlich als Schöpfer eines Songs gelten kann. So stammten auch die Hits von Milli Vanilli zwar aus der Feder des deutschen Produzenten Frank Farian, der schon am weltweiten Erfolg von Boney M. beteiligt war. Auf der Bühne jedoch standen mit Fab Morvan und Rob Pilatus ein Franzose und ein US-Amerikaner. Dass die beiden nicht einmal selbst gesungen haben, ist wieder eine eigene Geschichte.
Wichtiger für den Vergleich zu Jaehn und »Cheerleader« ist, dass bei Milli Vanilli – wie auch bei Culture Beat, La Bouche und anderen deutschen Dance-Produktionen – die Produzenten als diejenigen galten, denen das Werk zuzuschreiben ist. Die Regel war einfach: Waren sie Deutsche, waren folglich auch die Erfolge deutsch. Bei Amy Winehouse etwa käme hingegen niemand auf die Idee, ihre Erfolge als US-amerikanische zu feiern, weil die maßgeblichen Produzenten ihrer Hits, Mark Ronson und Salaam Remi, US-Amerikaner sind.
Im Falle von »Cheerleader« wird das Rad noch weiter gedreht. Hier reicht in den Augen deutscher Medien schon das bloße Remixen, um aus einem auf Jamaika von Jamaikanern gesungenen und produzierten Song ein Stück deutscher Wertarbeit zu machen. Das ist – wenn auch durch die schwarz-rot-goldene Hintertür – eine ungemeine Aufwertung der Kunstform des Remixes und zwar eine, die längst überfällig war.
Seit Ende der siebziger Jahre im Zuge von Disco die ersten Remixe entstanden, hat das Remixen kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Ein vorläufiger Höhepunkt wurde 1991 erreicht, als mit »Das Boot« von U96 ein De-facto-Remix von Klaus Doldingers Filmmusik zum gleichnamigen Film die Charts stürmte, der allerdings damals kaum als ein solcher wahrgenommen wurde, und dabei noch ganz nebenbei Techno in seiner billigsten Ausprägung in das Bewusstsein des Massen hievte. Auch damals schien den meisten klar, dass der Erfolg in erster Linie Alex Christensen alias U96 zuzuschreiben war, und wie bei »Cheerleader« blieb auch hier vom Original kaum mehr als die catchy Hookline übrig – ein Phänomen, das bis dahin vor allem aus dem HipHop bekannt war.
Dort nämlich war es schon seit mehr als ­einem Jahrzehnt gang und gäbe, sich bei bekannten Hits aus Jazz, Soul und später auch Rock einzelne Phrasen auszuleihen und so dem eigenen Stück vom Start weg einen hohen Wiedererkennungswert zu geben. Der Unterschied zum klassischen Zitat oder zur Coverversion in der Rock- und Popmusik bestand darin, dass diese Phrase nicht nachgespielt, sondern gesamplet wurde: Die berühmte Trompete auf »Cantaloop« von Us3 spielt nicht Herbie Hancocks »Cantaloupe Island« nach, es ist tatsächlich die Trompete von Hancocks Trompeter Gerard Presencer, die wir hören.
Anders als beim HipHop oder auch bei U96 werden heute, so wie es Jaehn bei »Cheerleader« getan hat, eher die Gesangsstimmen als die Instrumentalspuren gesamplet. Teilweise werden sie, wie bei Cyril Hahns 2013 erschienenem Remix von »Say My Name« von Destiny’s Child, so verfremdet, dass die Stimmen der Sänger oder Sängerinnen kaum noch zu erkennen sind. Sie werden als weiteres Instrument benutzt und stehen damit letztlich auf einer Stufe mit Presencers Trompete oder Doldingers Synthesizern.
Dass der Remix eine durchaus eigenständige, ernstzunehmende und wertzuschätzende Kunstform ist, wurde 2012 so deutlich wie kaum jemals zuvor. Damals füllte der belgische DJ Stephen Fasano alias The Magician mit einem Remix von Lykke Lis »I Follow Rivers« weltweit die Tanzflächen. Die Redaktion der Musikzeitschrift Intro kürte das Stück zum »Song des Jahres« – der Remix stahl der nur kurz zuvor erschienen Originalversion des Songs weitgehend die Show.
Es sollte egal sein, ob es sich bei Jaehns Remix um die erste deutsche Nummer eins in den USA seit 26 Jahren, die erste jamaikanische Nummer eins seit zehn Jahren oder vielleicht sogar um beides handelt. Viel wichtiger ist, dass »Cheerleader« zeigt: Ein gut gemachter Remix kann einen ansonsten kaum aus der Masse herausstechenden Song zu einem Hit machen. Ein guter Remix ist ein Akt künstlerischen Schaffens, bei dem etwas Neues und Eigenständiges entsteht. Und wenn es einen musikalisch eher belanglosen jamaikanisch-mecklenburgischen Sommerhit braucht, damit auch der deutsche Mainstream das versteht – meinetwegen. Es brauchte ja auch die Fantastischen Vier, damit hierzulande HipHop ernst genommen wurde.