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Dass man hier bei einer linken Zeitung arbeitet, merkt man erstens daran, dass es kaum Geld gibt, und zweitens daran, dass an Türen, Computern und Küchengeräten haufenweise Aufkleber pappen. Für Szene-Feeling sorgt zum einen die Botschaft (»Kein Mensch ist illegal« et cetera), zum anderen der shabby chic des Aufklebers. Die Farben verblassen mit der Zeit, jemand aus der Putzgruppe versucht bisweilen, einen Aufkleber zu entfernen, gibt dann aber auf halber Strecke auf und zurück bleibt eine unansehnliche Plastikmatsche. Diejenigen, die den Umzug von der Bergmannstraße in die Gneisenaustraße mitgemacht haben, sind schon vorsichtiger mit dem Anbringen der Sticker an Türen und Fenstern geworden. Zu frisch ist noch die Erinnerung an stundenlanges Herumschaben an Rahmen und Böden, weil der Vermieter die Aufkleber beim Auszug nicht als wertsteigernde Investitionen akzeptieren wollte. Der besondere Liebling unter den Stickern in den neuen Redaktionsräumen ist der himmelblaue Aufkleber an der Kühlschranktür. »Kein al-Quds-Tag«, mahnt er jeden, der sich Milch aus dem Kühlschrank holt. Daneben haftet ein Urlaubssouvenir, ein Magnetschild in Form der gotischen Kathedrale von Barcelona. Dorthin geht die nächste Redaktionsreise Ende September, wenn Kreuzberg in depressive Herbststimmung verfällt.
Was so nachvollziehbar wie paradox ist, schließlich hält der erfrischende Herbsthauch so viel Gutes bereit. Zum Beispiel mindestens zwei Sternchen in der Ökobilanz: Der erwähnte Kühlschrank könnte abgeschaltet werden, mittlerweile ist der extrem szenemäßige Riss im Küchenfenster nämlich groß genug, um die Kälte in vollen Zügen willkommen zu heißen. Auch das Fahrradfahren lohnt sich wieder und wird von Tag zu Tag sicherer. Denn sobald die braunen Blätter durch die Straßen wehen, treten nur noch Leute in die Pedale, die einigermaßen mit ihrem Landfahrzeug umgehen können. Und damit nicht genug: Die Kälte reduziert auch das Pannenrisiko. Denn das besonders unter jungen Leuten aus der Szene beliebte sogenannte »draußen Abhängen« wird schon bald zur Qual – weshalb Bierflaschen häufiger im Pfandautomaten denn als Scherben auf dem Radweg enden. Einzig die Präsenz von Übergangsmode könnte einem den Herbst vergällen. Aber wer würde sich schon mit dieser ausschließlich hierzulande getragenen Sonderbekleidung beschäftigen, wenn ein Spanien-Trip ansteht?