Die andere Seite der Migration

Schrumpfende Dörfer gibt es nicht nur in der deutschen Provinz. Auch weiter östlich an den Rändern Europas kennt man das Phänomen, etwa in dem zwischen Rumänien und der Ukraine gelegenen, bitterarmen Moldawien. Hier schlägt weniger der demographische Wandel durch, als vielmehr die massive Arbeitsmigration. Es gibt noch Kinder auf den Dörfern, aber deren Eltern finden auf dem Land längst keine Jobs mehr und arbeiten in Italien, Russland, der Türkei oder der Ukraine. Die in Bukarest lebende Autorin Liliana Corobca schildert in ihrem Roman »Der erste Horizont meines Lebens« ein solches Dorf der Kinder und Alten, das weitgehend ohne die mittlere Generation auskommen muss. Corobcas Protagonistin Christina ist zwölf und führt ein Pippi-Langstrumpf-Leben ohne Mutter und Vater. Gefragt, ob sie so leben will, wurde sie nicht. Das Mädchen geht zur Schule, kümmert sich um den Haushalt und die beiden Brüder und sehnt sich nach der Mutter, die als Haushälterin im fernen Italien fremden Kindern Gutenachtgeschichten vorliest. Ihr Vater verdingt sich als Minenarbeiter in Russland. Jedes Mal, wenn er zu Besuch nach Hause kommt, ist er wieder älter geworden, zahnlos schon und kraftlos. Liliana Corobca wirft einen unsentimentalen Blick auf die andere Seite der Migration und schildert Auswanderung, Landflucht und Brain-Drain aus der Perspektive derjenigen, die zurückbleiben müssen.

Liliana Corobca: Der erste Horizont meines Lebens. Zsolnay-Verlag, Wien 2015, 191 Seiten, 18,90 Euro