Der Aufstieg der spanischen Partei Podemos und der Populismus

Von Podemos lernen?

Es mehren sich Stimmen, die die Mobilisierung des »Volks« durch die Linke ­fordern – auch in Deutschland.

Das Gespenst des Linkspopulismus geht um, und zwar längst nicht mehr allein in Südamerika, sondern auch in Europa. Weder Syriza in Griechenland noch Podemos in Spanien tut man unrecht, wenn man diese Parteien als genuin populistische Projekte charakterisiert – obgleich klar ist, dass gerade Antikommunisten und Neoliberale nur allzu bereitwillig diesen Begriff im Mund führen, wenn es darum geht, politische Positionen zu diskreditieren, die Zweifel an der Alternativlosigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung äußern. So wird das Wort »Populismus« von Politikern und Kommentatoren zwar inflationär gebraucht, trifft aber bei Syriza und – in noch höherem Maße – bei Podemos ausnahmsweise ins Schwarze. Für die Programmatik beider Parteien ist nämlich die Populismus-Theorie des 2014 verstorbenen Philosophen Ernesto Laclau von entscheidender Bedeutung.
Laclau plädierte bereits Ende der siebziger Jahre dafür, dass die Linke populistische Strategien anwenden müsse. Hintergrund dieses Vorschlags des argentinischen Denkers war damals die Kritik am Klassenreduktionismus, zunächst vor allem aus pragmatischen Gründen: Laclau argumentierte, dass eine Linke, die allein das Industrieproletariat als ihre soziale Basis begreift, zur politischen Wirkungslosigkeit verurteilt sei. Stattdessen gelte es breite »populare« Allianzen zu schmieden, also zu versuchen, auch andere gesellschaftliche Kräfte in das proletarische politische Projekt zu integrieren; nur so ließe sich ausreichend Schlagkraft entwickeln, um den herrschenden Machtblock in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens zu stürzen.
Zunächst bewegte sich Laclau mit dieser Diagnose, die gerade für die Länder Südamerikas plausibel war, noch relativ orthodox in den Bahnen der Hegemonietheorie Antonio Gramscis. Als indes in den achtziger Jahren der Bedeutungsverlust des klassischen Industrieproletariats kaum mehr zu leugnen war und gleichzeitig das postmoderne Denken vermeintliche »Großerzählungen« wie die marxistische Theorie in Misskredit brachte, radikalisierte Laclau die populistische Tendenz in seinen Arbeiten – was auch in dem gemeinsam mit seiner Frau Chantal Mouffe verfassten, heute den Status eines Klassikers genießenden Werk »Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus« zum Ausdruck kam. Laclau und Mouffe bestritten in ihrem 1985 erschienenen Buch, dass der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft überhaupt wesentlich sei; folglich könne der Träger einer anvisierten »radikalen Demokratie« nicht mehr das Proletariat sein, sondern ein erst durch die Bildung von »Äquivalenzketten« zu kreierendes »populares« Subjekt. Der Postmarxismus war damit geboren. In seinen späteren Arbeiten, insbesondere in dem 2005 veröffentlichten Werk »On Populist Reason«, spann Laclau diesen Faden fort und feilte weiter an einer Theorie des Linkspopulismus.
In Europa sollte Laclau damit vor allem in Spanien Widerhall finden. Betrachtet man das politische Agieren von Podemos, so scheint es bisweilen so, als wären Pablo Iglesias und seine Mitstreiter einzig von der Motivation getrieben, die Thesen von »On Populist Reason« auf ihre exakte Umsetzbarkeit zu prüfen – etwa dann, wenn Iglesias, der sich in Interviews explizit auf Laclau beruft, davon spricht, dass der Gegensatz von links und rechts überholt sei (siehe Klassenreduktionismus) und stattdessen nur noch von »oben« und »unten« sprechen möchte. Dies entspricht Laclaus Überzeugung, dass ein populistisches Projekt nur dann hegemonial werden kann, wenn es ihm gelingt, den sozialen Raum einer konkreten Gesellschaft zu spalten, indem es einen nicht zu überbrückenden Antagonismus zwischen dem »Volk« und den korrupten Eliten diskursiv etabliert. Dazu kommt noch der Gebrauch einer gezielt die Affekte der Massen ansprechenden Rhetorik (man könnte hier auch an Alexis Tsipras‘ Appelle an die »gedemütigte« griechische Nation denken) und die Strategie, Führerfiguren aufzubauen und in Szene zu setzen – allesamt Konzepte, die ihre theoretische Legitimation in »On Populist Reason« finden.
In Deutschland hat zuletzt Jakob Augstein, ebenfalls mit Bezugnahme auf Laclau, für einen linken Populismus plädiert – mit dem Motiv, auf diese Weise dem sich in den vergangenen Monaten verstärkt in fremdenfeindlichen Aufmärschen artikulierenden Rechtspopulismus das Wasser abzugraben. Verglichen mit Podemos agiert die deutsche Linkspartei allerdings in dieser Hinsicht noch sehr vorsichtig, auch wenn Katja Kipping einem Linkspopulismus ausdrücklich keine Absage erteilt und Gregor Gysi offensichtlich bemüht ist, bei öffentlichen Auftritten ein dezidiert »volkstümliches« Auftreten zu kultivieren.
Dieses Zögern linker Politiker hierzulande, populistische Strategien offensiv anzuwenden, mag seinen Grund darin haben, dass das deutsche Wort »Volk« durch den Nationalsozialismus in besonderem Maße kontaminiert ist, was sich vor allem in der stark biologistischen Aufladung dieses Begriffs äußert. Dies gilt allerdings in weit geringerem Maße für das englische people, das französische peuple oder das spanische pueblo. Interessanterweise schließt Laclaus Populismus-Begriff prinzipiell jede biologistische Interpretation von Volk aus: würde es als ethnische Einheit begriffen, käme dies für Laclau dem Inbegriff eines Essentialismus gleich, der aus seiner Perspektive unter den Bedingungen der Postmoderne jede Legitimation verloren hat.
So geht es Laclau vielmehr um die politische Konstitution eines kollektiven Subjekts, das keine vorgängig festgeschriebenen ökonomischen oder gar biologischen Grenzen kennt. Anders formuliert: Wer »das Volk« ist, kann niemals a priori bestimmt werden, sondern ist immer erst Ergebnis eines politischen Konstitutionsprozesses im Handgemenge um die gesellschaftliche Hegemonie. Grenzen zwischen »uns« und »den anderen« werden in diesem Prozess permanent gezogen, wieder aufgehoben und erneut gesetzt – alles mit dem Ziel, am Ende die Hegemonie errungen zu haben.
In den Augen vieler hiesiger Linker mag die Theorie Laclaus wie ein Spiel mit dem Feuer erscheinen; so liegt etwa der Einwand nahe, dass, wenn erst einmal einer politischen Kultur der Weg bereitet ist, die hemmungslos an die Affekte der Massen appelliert, niemand mehr garantieren kann, dass dies nicht auch von der extremen Rechten ausgebeutet werden könnte. Allerdings sollte es zugleich zumindest irritieren, dass »Populismus« überhaupt zu einem der am meisten gebrauchten politischen Schimpfworte der Gegenwart werden konnte; schließlich könnte man meinen, dass gerade in einer Demokratie der Appell an das Volk positiv besetzt sein müsste. Dass dem aber offenkundig nicht so ist, kann als Indiz dafür genommen werden, dass diejenigen, die die politische Realität der westlichen Staaten mit dem Begriff »Postdemokratie« bezeichnen, nicht völlig danebenliegen.
Überdies ist das Verfahren, die Affekte – und vor allem die Ressentiments – der Bevölkerung anzusprechen, längst das alltägliche Geschäft der etablierten Parteien; man muss nur an Horst Seehofers Agieren in der gegenwärtigen Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen oder an Sigmar Gabriels Einlassungen vor einigen Wochen denken, als der SPD-Vorsitzende den Lesern der Bild-Zeitung garantieren wollte, dass es seine Partei keinesfalls dulden werde, wenn sich das griechische Gesocks vom deutschen Steuerzahler ein Leben in Luxus und Muße finanzieren lassen wolle.
Dieser Befund, dass es in der Politik ohnehin nie leidenschaftslos zugeht, ist äußerst bemerkenswert: Er verweist auf den ideologischen Charakter der Prämissen, die dem Liberalismus inhärent sind. Die liberale Theorie rechnet nämlich stets nur mit dem rationalen Individuum – dem homo oeconomicus –, also einem Menschentypus, der gerade um die Aspekte seiner Existenz beschnitten ist, die nichts mit der (bürgerlichen) Rationalität zu schaffen haben, vornehmlich also um seine Affekte. Materialisten von Baruch de Spinoza über Ludwig Feuerbach und Karl Marx bis hin zu Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben diese Abstraktion attackiert, vor allem auch deswegen, weil das Dogma vom vernünftigen Einzelnen im Liberalismus eine strategisch entscheidende Funktion innehat, dort nämlich als Ausgangspunkt des (in der Regel vertragstheoretisch geführten) Nachweises dient, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als durch und durch vernünftig anzusehen ist. Es ist insofern richtig, wenn die Linke versucht, hier einen Gegenentwurf zu formulieren. Man könnte dabei auch an den Vorschlag Michael Hardts und Antonio Negris denken, den Begriff der Liebe ins politische Spiel zu bringen – was den beiden allerdings Häme einbrachte.
Dennoch machen die menschlichen Leidenschaften einen irreduziblen Teil des Politischen aus und müssen keineswegs immer eine destruktive und regressive Wirkung zeitigen, wie es bei den Zusammenrottungen des rechtsextremen Mobs der Fall ist. Revolutionsromantik mag lächerlich wirken, aber dass kollektives Politikmachen auch ein Fest sein kann (und womöglich sogar sein müsste), zählt zu den Erkenntnissen der linken Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre, die nicht kurzerhand über Bord geworfen werden sollten.
Gleichwohl weist der Linkspopulismus selbst in der theoretisch ambitionierten Variante Laclaus zahlreiche Defizite auf – beginnend mit der Leugnung des Klassenwiderspruchs, die darauf beruht, dass der Begriff »Klasse« in einem substantialistischen Sinne missverstanden wird. Allein aber unter der Prämisse, dass »Klasse« das empirisch vorfindliche Industrie­proletariat bezeichnet, ist die postmarxistische Zurückweisung dieses Begriffs wirklich plausibel. Marx dachte dagegen Klasse als gesellschaftliches Verhältnis, das als solches gerade nicht empirisch wahrzunehmen ist. Und da auch in den gegenwärtigen Gesellschaften die Lohnarbeit keineswegs verschwunden ist, bleibt es plausibel zu argumentieren, dass die bestehende Ökonomie durch das Verhältnis von Arbeit und Kapital determiniert ist. Ob dabei die Seite der Arbeit von einem Kohlekumpel oder einem Call-Shop-Angestellten repräsentiert wird, bleibt in dieser Hinsicht gleichgültig.
Gravierender noch ist, dass dem hegemonietheoretischen Ansatz Laclaus und seiner politischen Adepten per se ein antiemanzipatorischen Motiv innewohnt. »Das Volk« erscheint nämlich auch den Linkspopulisten als bloße Verfügungsmasse, als Spielfigur im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie. Diese kann allein dank der klug handelnden Parteiführer errungen werden, die es als schlaue Machiavellisten verstehen müssen, die Massen geschickt zu mobilisieren und die richtigen Äquivalenzketten zu schmieden. Der Gedanke, dass die Befreiung der Subalternen nur als Selbstbefreiung derselben vorzustellen ist, findet sich hier nicht mehr. Ausgerechnet die heutigen Postmarxisten wandeln damit weitaus treuer in den Spuren von Lenins Avantgardepartei als ihnen lieb sein dürfte.