Der Comic-Roman »Fahrradmod«

Jugend aus dem Handschuhfach

Tobi Dahmen hat mit »Fahrradmod« einen autobiographischen Comic-Roman vorgelegt, der den Retro-Jugendkulten der achtziger Jahre ein Denkmal setzt.
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Das eigenhändig zusammengestellte Mix-Tape war das subkulturelle Leitmedium der achtziger Jahre: Es diente als besonders persönliches Geschenk beim Liebeswerben, es fungierte als Soundtrack zu Urlaubsreisen und Übernachtfahrten, es machte Freundeskreise zu Musiktauschringen in Zeiten, als es noch keinen Download gab und der Kauf einer LP mindestens das halbe Monatstaschengeld auffraß – kurz, das Mix-Tape war Fenster in die weite, wilde Welt jener Popmusik, die nicht im Autoradio lief, und zugleich durch seine individuelle Zusammenstellung so persönlich wie sonst nur ein Tagebucheintrag.
Zu Recht also sind in den vergangenen Jahren unzählige Hommagen an diesen Tonträger erschienen, doch poetischer und liebevoller als es jetzt Tobi Dahmen in seiner Graphic Novel »Fahrradmod« gelungen ist, kann man das Mix-Tape kaum mehr in Szene setzen.
Der autobiographisch angelegte Protagonist der Erzählung greift zunächst nicht aus einer nostalgischen Wallung heraus oder wegen prinzipieller Ablehnung digitaler Medien ins Handschuhfach seiner Familienkutsche, sondern aus schlichter Not: Der Akku des eigentlich ans Autoradio angeschlossenen I-Pod gibt den Geist auf und Tobi braucht dringend Musik. Hinter ihm liegt ein sogenannter weekender und vor ihm eine lange, einsame Autobahnfahrt. Dem gut 40jährigen Tobi, auf dessen Hinterkopf sich eine winzige Lichtung zu zeigen beginnt und unter dessen Fred-Perry-Polo sich ein klitzekleines Bäuchlein wölbt, steht es ins Gesicht geschrieben, dass drei Tage Nor­thern Soul, alte Freunde und vermutlich einiges an Dosenbier ihren Tribut gefordert haben. In dieser wenig beneidenswerten Verfassung fallen Tobi die alten Mix-Tapes wieder ein, die wohl seit Längerem vergessen auf dem Grund des Handschuhfachs schlummerten. Mit sicherem Händchen fischt er das älteste Band (»Das war doch 1987, oder?«) heraus und legt es ein. Der sehr allgemein gehaltenen Beschriftung »Pogo Music« zum Trotz ertönt daraufhin kein Punkrock, sondern »Get Ready«, ursprünglich ein Motown-Klassiker von Smokey Robinson, in der knüttelnden Version der Münsteraner Psychobilly-Combo Sunny Domestozs aus dem Jahr 1986. Ein perfekt gewählter Opener für die sich nun Autobahnkilometer um Autobahnkilometer weiter entfaltende Erinnerungsreise, auf die sich Tobi gedanklich begibt: Denn »Get Ready« steht am Anfang von Tobis langem Weg, der nun noch einmal vor seinem geistigen Auge abläuft, einer Lebensgeschichte, die mit der pubertären Entdeckung der Freuden des Trinkens und Tanzens beginnt; und mit dem daraus resultierenden, unter dem Einfluss des Films »Quadrophenia« gefällten Entschluss, nichts anderes als ein Mod sein zu wollen. In gewisser Weise enthält »Get Ready« auch schon den Fingerzeig auf das Ende der Geschichte, das eigentlich kein Ende ist, sondern ein immerwährender Anfang in endloser Zeitschleife. Denn das Wichtigste, was das Mod-Sein für Tobi parat halten wird, ist eben die Entdeckung des Soul der sechziger Jahre, der Musik Smokey Robinsons und vieler anderer seinerzeit eher unbekannt gebliebener Künstler, die für Tobi zur musikalischen Liebe seines Lebens wird. Und er steht damit nicht alleine: Eine ganze, nach herkömmlichen Maßstäben anachronistische Szene liebt auch heute noch den Northern Soul, eine Spielart von Soul, nach deren Machart seit Anfang der Siebziger keine einzige neue Aufnahme mehr erschien. Auf ebenso abseitige wie liebenswürdige Weise konserviert diese Szene mit ihren nighters und weekenders die Hoffnung auf eine Zukunft, wie sie in den Sechzigern heraufzuziehen schien, und will sich diese gewünschte Zukunft schlicht nicht vermiesen lassen von der echten Zukunft, die dann tatsächlich kam und in der man als Gegenwart selber ebenso wie auch Tobi und seine Freunde zu leben gezwungen ist.
Wie aber konnte Tobi überhaupt so aus der Zeit fallen und fünf Jahre, nachdem Kohl die geistig-moralische Wende angekündigt hatte, Mod werden? In einer Kleinstadt am Niederrhein, wo man schon vor der Erfindung der Grünen auf Hollandrädern herumfuhr? Die Spätachtziger waren eine bizarre Zeit: Es sah so aus, als hätte Geschichte sich erschöpft, wäre stehengeblieben im sumpfig-faden Hier und Jetzt, das Konservative wie Alternative unisono beschworen; damit aber war auch die Popgeschichte erschöpft, die in den Siebzigern noch eine kontinuierliche progressive Entwicklung von Musik-, Lebens- und Kunstformen verheißen hatte. Nicht zuletzt auf diesen Stillstand reagierten die Retro-Jugendbewegungen der Achtziger. Sie suchten nach einem anderen Ausgangspunkt, der vor 1968, vor Woodstock lag. Und was es dabei zu entdecken gab, hatte es in sich: Es war eine ganze, in Deutschland bislang unerzählte Popgeschichte, auf die man stieß. Diese Entdeckung der Prä-68er-Subkulturen, vor allem die Großbritanniens, die Entdeckung von Rockabilly, Ska, Motown-Soul, Kinks und Who und ihren zeitgenössischen Nachfahren wie den Specials, den Stray Cats oder The Jam schien es möglich zu machen, die von und in Deutschland verpassten Fünfziger und Sechziger jetzt nachzuerleben – und sich damit sowohl von den bärtigen Reformlehrern abzusetzen wie auch vom innerdeutschen Generationengespräch, das Friedensbewegte und Kohl-Anhänger gleichermaßen führen wollten.
Und genauso ist der Untergrund, den Tobi sucht und gar nicht so weit weg vom Pausenhof denn auch findet: ein wahres Panoptikum wiederbelebter, in Deutschland bis in die Achtziger unbekannt gebliebener Jugendkulte. Dahmen zeichnet dieses Panoptikum ebenso lebendig wie detailgetreu nach – und webt in diese persönliche Rückschaugeschichte auch immer wieder wunderbar gezeichnete Exkurse in die Popgeschichte ein, führt nach Soho, Brighton oder an die Stamford Bridge, und erklärt auch mal Komplexes kurz und knackig in einem Bild, wie dem, in dem Johnny Rotten à la Frankenstein mit einem Defibrillator einen Zombie-Mod zu neuem Leben erweckt.
»Fahrradmod« gelingt also ganz viel: In erster Linie erzählt der Comicroman eine bezaubernde Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über geplatzte Träume und festgehaltene Ideale, mit dem ganzen Aberwitz einer Schulhofkomödie – ein Genre, das dem wirklichen Leben einer klassischen Pubertät durchaus nahekommt –, aber auch dem blutigen bis sogar tödlichen Ernst, den die Sache am Übergang zu Ska und Skins bekommen konnte. Zum Schluss gibt es auch den notwendigen, kleinen Schuss anrührender Sentimentalität, mit der ganz alter, vom Weg mehr als nur einmal abgekommener Freunde gedacht wird – natürlich mit dem entsprechenden Mix-Tape. »Fahrradmod« ist aber wegen seiner detailgetreuen Zeichnungen auch ein Style-Guide, wegen seiner Exkurse in die englische Pop- und Sozialgeschichte ein Musiklexikon und wegen seines träumerischen Erzähl-Flows ein Art Märchenbuch der Jugendkulturen.

Tobi Dahmen: Fahrradmod. Carlsen-Verlag, Hamburg 2015, 480 Seiten, 29,99 Euro