19.11.2015
Gegen problematische »Willkommenskultur« und Rassismus hilft nur Kritik

Zwischen Mob und Merkel?

Die Verhältnisse könnten noch viel schlimmer werden. Das Beste, was man tun kann, ist, dem Ruf nach direkter Demokratie entgegenzutreten und das Gift der Kritik zu verbreiten. Ein Fünf-Punkte-Plan.

Noch gibt es kein »Bündnis von Mob und Elite« wie in den neunziger Jahren. Auch damals brannten Flüchtlingsunterkünfte, während auf den Straßen wie in den Wohnzimmern in trauter Eintracht mit fast dem gesamten politischen Establishment vom »vollen Boot« die Rede war.
Noch setzen sich überraschend viele Menschen für Flüchtlinge ein. Offensichtlich hat sich in dieser Hinsicht im letzten Vierteljahrhundert bei einigen Deutschen etwas zum Besseren gewandelt. Doch die sind eindeutig in der Minderheit. Viele andere hingegen trauen sich nur noch nicht so recht zu sagen, was sie wirklich denken.
Schnell hat sich bestätigt, was Alexander Nabert im September prophezeite (Jungle World 38/2015): Es ist wahrscheinlicher für Flüchtlinge, die Bekanntschaft gewisser »betrunkener Deutscher« zu machen, als von der Kanzlerin gestreichelt zu werden. Dass angesichts des Massen­elends in der Hölle von Syrien wenigstens ein paar hunderttausend Menschen in Notunterkünften vor dem Verhungern bewahrt werden und einige von ihnen vielleicht sogar die Chance bekommen, sich ein besseres Leben aufzubauen – schon diese eingedampfte Miniaturausgabe von Resthumanität bringt viele zur Weißglut. Noch halten nicht wenige dagegen. Dass aber »Wirtschaftsflüchtlinge« nicht willkommen seien, diese Ansicht teilt die übergroße Mehrheit. Viele derer, die sich auch einmal an einer »Lichterkette für die Flüchtlinge« beteiligen mögen, gehören dazu. Wo doch das Wort »Wirtschaftsflüchtling« bei Licht betrachtet statt eines Vorwurfs an die Fliehenden eine knallharte Anklage gegen ein Wirtschaftssystem ist, das Menschen in Massen zur Flucht treibt. Sehnten sich denn die vier Millionen, die seinerzeit aus der DDR in die BRD flohen, nicht auch nach einem höheren Lebensstandard? Was war daran verwerflich? Die Antwort, die sie darauf geben, verweist auf die wahren Beweggründe der Antwortenden: Das seien ja schließlich Deutsche ­gewesen. Also irgendwie bessere Menschen, denen mehr zustand.
Während ein Bahnhofsneubau Zehntausende auf die Straßen treiben kann, um ihren Zorn herauszuschreien, ist die Hoffnung vergebens, dass etwa die Einschränkung des Asylrechts auch nur halb so viele empörte Menschen zum Demonstrieren veranlassen könnte.
In den Medien und in der Politik ist ein formi­dabler Schwenk zu beobachten. Horst Seehofer (CSU) hatte frühzeitig den richtigen Riecher. Schon bald nachdem er den ungarischen Dreiviertelfaschisten Viktor Orbán aus dem halboffiziellen EU-Bann erlöst und hoffähig gemacht hatte, marschierten Tausende durch Erfurt und Dresden und riefen: »Orbán! Orbán!« Und: »Merkel muss weg!«

Obwohl auch Angela Merkel die Mauern der Festung Europa immer höher zieht, hat sie ein paar gute Gründe dafür, wenigstens en détail eine etwas andere Politik zu betreiben, als es sich der Mob wünscht. Die Begeisterung vieler Flüchtlinge für »Mutter Merkel« tut dem internationalen Image Deutschlands gut, das durch die brutale Griechenland-Politik schwer angeschlagenen war. Auch wissen Merkel und Siegmar Gabriel um die enormen politischen und ökonomischen Vorteile der Zuwanderung. »Nur durch massive Zuwanderung wird es Deutschland gelingen, langfristig seinen Lebensstandard und einen Platz unter den drei bis vier wichtigsten Ländern in der Welt zu sichern. Die Kosten der Integration sind also eine kluge Investition in die Zukunft«, so der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau. (Die Zeit, 15. Oktober 2015)
Verständnis für die großen ökonomischen ­Zusammenhänge und die Zwänge der Globalisierung war eben noch nie die Stärke rechter Dumpfbacken. Fast krampfhaft ist man darum »von oben« bemüht, den nationalen Kitt globa­lisierungstauglich zu erneuern. Immer wieder erklärt man denen »da unten«, dass sich der Exportweltmeister mit nationalistischer Engstirnigkeit doch am meisten selbst schade. Stolz auf Deutschland könne man doch gerade deswegen sein, »weil wir so menschlich sind«.
Felix Schilk (Jungle World 46/2015) hat recht: Sowohl »Willkommenskultur« als auch fremdenfeindliche Zusammenrottungen bieten Identität in der fragmentierten postfordistischen Krisengesellschaft und haben deshalb mehr miteinander zu tun, als den Akteuren bewusst sein mag. Allerdings wird man in Zeiten, in denen alles, was nach einer Alternative zum Bestehenden aussieht, nur als Drohung wahrgenommen werden kann, vernünftigerweise eine noch so problematische »Willkommenskultur« der anschwellenden Hasskultur vorziehen.
Selfies mit Flüchtlingen haben viel mit der Vergewisserung zu tun, man gehöre zu »den Guten«. Trotzdem sind sie weniger unsympathisch als die andere Variante von »Wir sind die Guten«: der blanke Hass, den schon viele kollektiv herausbrüllen und den sehr viele mehr bis jetzt nur »privat« rauslassen. Die wirklich gute Variante – massenhafte Unterstützung für offene Grenzen und das Recht auf Migration für alle Menschen – ist ebenso wünschenswert wie auf absehbare Zeit völlig unrealistisch. Zu befürchten ist, dass das Potential der konformistischen Rebellion noch lange nicht ausgeschöpft ist. Zwar gibt es die »temporäre Kampfgemeinschaft« von Querfrontlern, Verschwörungsphantasten, Rechtspopulisten und Linksreaktionären erst im Ansatz, aber das antiamerikanische und letztlich antisemitische Ressentiment, das sie alle teilen, hat seine enormen Fraternisierungskräfte über alle Widersprüche hinweg schon oft bewiesen.
Ob Merkel ihre etwas weitsichtigere und weniger menschenfeindliche Politik durchhalten kann, ob sie ihr Fähnlein noch einmal rechtzeitig in den Wind hängt oder ob der Mob sie unter kräftiger Mithilfe vieler ihrer »Parteifreunde« stürzen wird, ist offen. Auffällig häufen sich nicht nur in der FAZ die Angriffe auf die Kanzlerin, Die Welt protegiert Thomas De Maizière, Wolfgang Schäuble und Seehofer und immer offener auch die AfD.

Was tun in Zeiten, in denen die einen »jeder ist einer zu viel« brüllen und die meisten anderen zwischen »denen, die uns nützen,« und »denen, die uns auf der Tasche liegen,« unterscheiden? Außer zu hoffen, die übelste Fraktion möge sich nicht durchsetzen? Fünf Vorschläge:
1. Wer seine fünf Sinne noch einigermaßen beisammen hat, sollte spätestens jetzt jedes Liebäugeln mit »direkter Demokratie« vergessen. Wer Einfluss auf politische Entscheidungsträger hat, sollte ihn entsprechend nutzen. Je weiter man im politischen Spektrum nach rechts schaut, umsohäufiger begegnet einem die Forderung nach Volksabstimmungen. Die Rechten sind nicht blöd.
2. Wer die Möglichkeit hat, sollte in Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen jedem Spielen der nationalistischen Karte entschieden entgegentreten. Das betrifft insbesondere die reaktionäre Querfrontfraktion in der Linkspartei.
3. Der »Aufbau lokaler Schutzstrukturen und das Sabotieren der rassistischen Mobilisierung auf allen Ebenen«, wie die Gruppe »Deutschland demobilisieren« fordert (Jungle World 39/2015), sind gut. Nur sollte man sich nicht der Illusion hingeben, die paar handlungsfähigen Antifa-Gruppen könnten es alleine mit dem Mob aufnehmen. Bündnisse eingehen heißt immer Kompromisse schließen. Gute Kompromisse sind solche, die die Entfaltungsmöglichkeiten des Mobs behindern.
4. Antifa muss raus aus der weißen, deutschen, männlichen Mittelschichtsecke. Mehr türkisch, kurdisch und arabisch sprechende Menschen in die Antifa! Die fliegen einem sicher nicht zu. Aber man muss auch auf sie zugehen wollen. Wo bleiben die deutsch-englisch-arabischen Texte und Veranstaltungen gegen Jihadismus, Antisemitismus und Israelhass, wo die Aufkleber und Kurzvideos?
5. Ressentiment kommt aus dem Bauch, Kritik aus dem Kopf. Nur wer eine ziemlich gruselige Vorstellung vom Linkssein hat, vermag zu glauben, es könne auch einen anderen Populismus geben als den rechten. Die komplizierten Themen Ideologiekritik und Kritik der politischen Ökonomie können auch Menschen nähergebracht werden, deren erstes Lebensbedürfnis es nicht ist, meterweise Marx, Freud und Adorno zu lesen.

Es braucht dazu den Willen und eine Sprache, der es weniger um Selbstbestätigung als um Überzeugung zu tun ist. Flugblätter für die Fußgängerzone kommen dabei nicht heraus. Aber nicht wenige Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sind ansprechbar. Das Gift der Kritik zu verbreiten, bleibt immer noch die beste emanzipatorische Praxis.
Heraus aus der mitunter selbstgewählten ­Isolation und mehr Anstrengung, bitte.