Arye Sharuz Shalicar im Gespräch über den Kampf gegen den Terror in Europa und im Nahen Osten

»Gelassenheit reicht nicht«

Die Bedrohungslage ist nicht vergleichbar. Dennoch könne Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus von Israel lernen, sagt Arye Sharuz Shalicar, Sprecher der israelischen Armee.

Arye Sharuz Shalicar wurde 1977 als Sohn iranischer Juden in Göttingen geboren und wuchs in Berlin auf. Er schloss sich der HipHop-Szene an, rappte unter dem Pseudonym Boss Aro in der Formation Berlin Crime und ist auf verschiedenen Alben befreundeter Rapper wie Frauenarzt vertreten. Nach dem Abitur diente er als Sanitäter bei der Bundeswehr, studierte Politologie an der FU Berlin und erwarb den Master in European Studies. Shalicar wanderte 2001 nach Israel aus und war ehrenamtlicher Vorsitzender der Organisation junger deut chsprachiger Einwanderer in Israel (NOAM). Seit 2009 ist er Presseoffizier der Israelischen Streitkräfte und betreibt auf Facebook eine deutschsprachige Seite der israelischen Armee. 2010 erschien bei dtv sein autobiographisches Buch »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude«.
Nach den Anschlägen in Paris sollte das Fußballspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden ein Zeichen gegen den Terror setzen. Was haben Sie gedacht, als Sie von der Absage hörten?
Nicht nur als Fußballfan finde ich diese Absage traurig. Damit ist noch einmal deutlich geworden, dass die Drohung global und auch das Leben des Durchschnittsbürgers beeinträchtigt ist. Sich das einzugestehen, mag schockierend sein, allerdings muss ich auch sagen, dass ich diese Situation aus Israel kenne und nicht zuletzt berufsbedingt damit täglich zu tun habe. Aber auch aus meiner Zeit in Berlin weiß ich um die Angreifbarkeit demokratisch gesinnter Gesellschaften durch eine höchst gefährliche Ideologie.
Sie sind als Sohn iranischer Juden in Deutschland aufgewachsen, als junger Mann nach Israel gegangen und arbeiten heute als Pressesprecher der IDF. Was kann Deutschland aus Ihrer Sicht von Israel in der Terrorbekämpfung lernen?
Es gibt wohl kein Land auf der Welt, das so viel Terror erlebt wie Israel, vom Raketenbeschuss bis zum Messerangriff. Aber es gibt eben auch eine große Erfahrung mit der Abwehr von Terror, und deshalb können unsere militärischen, polizeilichen und mentalen Strategien des Umgangs mit der Bedrohung auch für andere Länder hilfreich sein.
Welche mentalen Strategien meinen Sie? Sollten die Deutschen gelassener reagieren?
Gelassenheit ist wichtig, aber sie reicht nicht. Ich meine vor allem eine besondere Wachsamkeit und ein Verantwortungsgefühl, das man in Israel für die Gemeinschaft hat. Das ist eine mentale Strategie. Damit meine ich das Thema Zivilcourage, die in Israel einen hohen Stellenwert hat. Aber sie fällt nicht vom Himmel, sondern muss entwickelt werden. Wenn eine Attacke stattfindet und die Umstehenden mitbekommen, dass etwas nicht stimmt und die Situation eskaliert, laufen die Leute nicht einfach weg, sondern rennen auf den Tatort zu, um zu helfen und zu retten und die Täter außer Gefecht zu setzen.
So wie die US-Bürger, die einen schwer bewaffneten Mann in einem Thalys-Schnellzug überwältigten.
Vielleicht muss man sich in Europa erst einmal darüber klar werden, dass jeder in diese Situation kommen kann und dann mit dem Stress fertig werden muss. Zivilcourage ist eine Fähigkeit, die trainiert werden muss. Das geht auch nicht von heute auf morgen, das muss einsickern in die Bevölkerung und vorgemacht werden durch Behörden, Schule, Politik und das Vorbild einzelner Persönlichkeiten. Dieser tägliche Stress, den wir uns als Sicherheitsbeamte in Israel machen – ich bin mir nicht sicher, ob das in Deutschland funktioniert. Es braucht aber sicherlich mehr Präsenz von Sicherheitsbeamten an den Hotspots und einen verstärkten Austausch von Informationen zwischen den Ländern.
Schwingt in der Forderung, Deutschland solle von Israel lernen, nicht auch überzogene deutsche Panik mit?
Ich würde sagen: Jein. Deutschland ist im Vergleich zu Israel ein großes und sehr sicheres Land, das auch keinen Raketenbeschuss fürchten muss, das nicht von feindlich gesinnten Nachbarstaaten umgeben ist, das seine Existenzberichtigung nicht in Frage gestellt sieht. Zum Glück für Deutschland ist das so. Andererseits haben die Gruppierungen des Jihadismus ihre Leute eben auch in Deutschland und Frankreich und Belgien. Ob deren Vertreter nun in Deutschland sitzen oder in den Nachbarländern Israels, gemeinsam ist ihnen, dass sie all jene, die ihre Ideologie nicht teilen, als Feinde betrachten, die es zu vernichten gilt. Es ist ihnen egal, ob es Juden, Christen, Atheisten sind – wer nicht bereit ist, überzutreten und unter der jeweiligen Flagge zu marschieren, muss aus ihrer Sicht getötet werden. Alle Nationalitäten sind deren Feinde und das schließt auch alle moderaten Muslime ein.
Israel hat sich oft aus Deutschland vorwerfen lassen müssen, man reagiere überzogen. Wie sehen die Menschen in Israel die Bilder aus Paris, Hannover und Brüssel?
Viele Israelis haben das Gefühl, dass Europa heute fast in einer ähnlichen Situation ist wie Israel und dass inzwischen viele Europäer zu verstehen beginnen, dass alle in einer Welt leben und Israel nicht der Grund für den internationalen Terrorismus und der israelisch-palästinensische Konflikt nicht der Grund für diese Terrororganisationen ist, die weitaus mehr wollen, als Israel auszulöschen. Wir alle, der moderne Westen, Juden und Christen und Muslime sind genauso der Feind. Man könnte sagen, es gibt in Israel die Hoffnung, dass die Europäer aus ihrem Winterschlaf aufwachen und nicht an dieser Beschwichtigung festhalten. Es wäre schön, man könnte seinen Pazifismus pflegen, aber man muss sich schützen. Ich glaube, dass viele Israelis jetzt hoffen, dass man versteht, wie der Terror nicht nur der Palästinenser, sondern auch der Libanesen, Syrer oder der Gruppierungen auf dem Sinai das Land verändert haben. Das heißt, dass dieses Land im Dauerstress ist, viele Eltern Angst haben, ihre Söhne und Töchter in den Kindergarten zu bringen, und dass israelische Reaktionen auf den Terror immer bedeuten, sofort auf die Anklagebank gesetzt zu werden, weil die Gegenwehr als nicht angemessen gilt. Jetzt merkt man schon, dass bei einer Terrorattacke wie in Paris ganze Länder durcheinandergeraten und ganze Städte abgeriegelt werden.
Auf der anderen Seite blühen die Verschwörungstheorien, die Israel und den USA die Schuld an der Eskalation geben.
Selbstverständlich wird es diese Schuldzuweisungen an »die Juden« oder »den Zionismus« weiterhin geben – das geht auch immer weiter, unabhängig vom realen politischen Geschehen. Das wird leider auch so bleiben. Wenn man aber kurz mal analysiert, was die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten antreibt, kommt man auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten und auf Tausende Tote und viele Länder, in denen Schiiten und Sunniten einander bekämpfen. Das ist in der Relation absolut nicht vergleichbar mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Angetrieben werden die Konflikte weiterhin von den radikalen islamistischen Organisationen wie dem IS, al-Qaida, Boko Haram, al-Nusra, Hamas, Hizbollah und deren Sponsoren wie Saudi-Arabien, Iran und Katar, die einen tätlichen Schlagabtausch führen mit den moderaten Muslimen einerseits und der nichtmuslimischen Welt andererseits. Der radikale Islamismus ist für den blutigen Terror von 9/11 bis Paris verantwortlich, und das sind alles Ereignisse, die nichts mit Israel zu tun haben. Um das zu erkennen, muss man einfach nur die ideologischen Scheuklappen abnehmen und die Dinge objektiv analysieren.
Israelische Sicherheitsbehörden kontrollieren anders als europäische. Das zeigt sich schon bei den Flughafenkontrollen. Junge Männer mit arabischem Aussehen werden von israelischer Security ausgiebiger interviewt als andere Passagiere. Sie kennen die Diskriminierung in Deutschland aus eigener Erfahrung und haben ein Buch über Ihre Erfahrungen als Jude und als Iraner geschrieben. Ist Profiling vor dem Hintergrund des Rechtsextremismus in Deutschland aus Ihrer Sicht akzeptabel?
Auch ich werde am Flughafen durchleuchtet und bin immer wieder genervt von Kontrollen und Interviews. Dass ich mich als Sprecher des Militärs ausweisen kann, interessiert die Sicherheitsleute wenig. Es spielt keine Rolle, ich muss diese Verhöre über mich ergehen lassen wie alle anderen auch. Das ist auch in Ordnung. Wichtig ist, jeden Generalverdacht gegen eine nationale oder ethnische Gruppe und deren Angehörige abzuweisen. Nirgendwo auf der Welt und auch nicht in Israel sollte man aufgrund der Taten einer Minderheit eine ganze Religion oder Nationalität bewerten oder verdächtigen. Weder Israel noch Deutschland sollten zulassen, dass der Eindruck entsteht, jeder Muslim oder Araber sei gefährlich oder stelle sich hinter den Terror. Man muss sich immer bewusst sein, dass es eine Minderheit ist. Es liegt an den Sicherheitskräften, einerseits den Alltag eines jeden Bürgers zu gewährleisten, egal ob er ein Türke, ein Schwarzer oder ein Jude in Deutschland ist. Niemand soll sich beeinträchtigt fühlen, andererseits muss man gegen radikale Gruppe auch mit Härte vorgehen. Ein Dialog ist mit diesen Organisationen nicht möglich. Unterlässt man es, gegen die radikalisierte Minderheit innerhalb einer Gruppe vorzugehen, beschädigt man das Ansehen der gesamten Gruppe und befördert Ressentiments und rechtsextreme Tendenzen in der Gesellschaft. In Israel leben arabische Israelis, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sie sind vertreten in der Politik, in der Justiz, in der Bildung und im Gesundheitswesen, in der Polizei und in der Sicherheit. Und so ist es auch in Deutschland: Wie viele junge deutsche Muslime sind in der Politik, haben einen Doktortitel, arbeiten als Ärzte oder Juristen, als Lehrer, Facharbeiter und Unternehmer! Das sind die Leute, die die Mehrheit in der Minderheit stellen. Sie selbst müssen sich gegen die radikalen Elemente ihrer eigenen Gesellschaft engagieren. Das zu fordern, hat nichts mit Rassismus zu tun. Aber wer sich beispielsweise in radikalen Moscheen aufhält, darf nicht mehr auf das Vertrauen der Gesellschaft zählen.
In Europa wird streng zwischen Terrorbekämpfung und Krieg unterschieden. Israel bezeichnete den Kampf gegen den Terror dagegen schon früh als Kriegsführung. Die USA tun dies seit 9/11 und auch Frankreich spricht nach dem 13. November von einem Krieg, in dem man sich befinde. Dies bedeutet, dass eine militärische Lösung bei der Bekämpfung des Terrors in den Vordergrund rückt: die Zerschlagung des IS in Syrien und im Irak. Nun ist bekannt, dass junge Franzosen, aber auch Deutsche in den Jihad nach Syrien gezogen sind. Einige kehren nach Europa zurück, um Anschläge zu verüben. Mit der Konzentration auf das Militär rückt eine Integrationspolitik, die das Abgleiten junger Muslime in den Fanatismus verhindern könnte, in den Hintergrund. Kann der IS miltärisch besiegt werden?
Der islamistische Terror ist weitverbreitet und hat viele Gesichter und Flaggen. Jedes Land hat seinen eigenen Stresspegel und seine Methoden, gegen den Terrorismus vorzugehen. Deutschland, Israel, Frankreich und Russland gehen jeweils anders gegen den Terror vor, denn jedes Land und jede Bevölkerung hat eigene Erfahrungen, und auch die Stellung der Sicherheitsorgane und der Stellenwert der Bekämpfung des Terrorismus unterscheiden sich. Ich verstehe voll und ganz, wenn Frankreich nach der Attacke von Krieg spricht, aber es ist etwas anderes, wenn man wie Israel seit vielen Jahren an jeder Grenze mit dem Terror lebt. Dennoch fällt es mir schwer zu sagen, dass eine rein militärische Lösung den gewünschten Erfolg bringt. Ich glaube jedoch, dass die demokratischen Gesellschaften in Israel, den USA und in Europa zusammenstehen sollten, wenn es darum geht, moderate Muslime zu schützen und Länder aufzubauen und zu stärken, die gegen die radikalen Islamisten vorgehen.
Die Integrationspolitik ist umso bedeutsamer, als Deutschland gerade eine große Zahl Flüchtlinge aufnimmt, vor allem viele junge muslimische Männer. Ein überzogener Sicherheitsdiskurs könnte sich auch gegen die Flüchtlinge wenden. Wie kann die deutsche Gesellschaft in dieser Situation Integration und Teilhabe gewährleisten, aber auch den islamistischen Terror bekämpfen?
Ich bin im Berliner Wedding aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Meine Mitschüler hatten fast alle einen Migrationshintergrund, die meisten waren Türken, Palästinenser, Libanesen. Viele dieser Jugendlichen sind nicht wirklich angekommen in Deutschland. Das liegt einerseits an der deutschen Gesellschaft, die gedacht hat, dass die Migranten eines Tages wieder gehen. Man hat sich nicht wirklich darauf eingestellt, sie zu integrieren. Irgendwann bildet sich dann ein tiefsitzender Frust vor allem bei den Jugendlichen, manche suchen nach anderen Wegen, um Anerkennung zu erfahren, und gleiten in die Kriminalität ab. Das ist das eine Problem, das man im Blick haben muss. Andererseits muss ich sagen, dass viele junge Muslime, die radikaler eingestellt sind und auch mich als Juden attackiert haben, ausgesprochen feindlich gegenüber Deutschland eingestellt sind. Dazu gehört die Ablehnung von Demokratie und Gleichberechtigung, die Abwertung von Homosexuellen und Transsexuellen. Sie leben mit ihrer Einstellung nicht in Deutschland. Da muss der Staat einerseits viel tun und vor allem in Bildung investieren, um diese Jugendlichen nicht zu verlieren, aber andererseits auch Härte zeigen, wenn sie in die radikale Richtung gehen, und keine Angst vor dem Rassismusvorwurf haben.
Sie waren auch ehrenamtlicher Vorsitzender der Organisation junger deutschsprachiger Einwanderer in Israel. Erwarten Sie, dass die Auswanderung deutscher Juden nach Israel jetzt zunimmt?
Das hat keinen direkten Einfluss. Aus Berlin wegzugehen und nach Israel zu kommen, um dem Terror zu entfliehen, würde keinen Sinn ergeben. Die Einwanderung nach Israel hat andere und vielfältige Gründe. Es geht um die Identität, die Sprache, das Wetter und die Traditionen. Ich glaube nicht, dass jetzt die großen Umzugskolonnen aus Berlin aufbrechen.