Heiner Müllers »Philoktet« in der JVA Tegel

Odysseus unter schweren Jungs

In der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel führt das Gefängnistheater aufBruch Heiner Müllers »Philoktet« auf.

Abends beleuchten helle Scheinwerfer den Weg, der zwischen einem Zaun und einer mehrere Meter hohen Wand aus Beton mit Wachtürmen zum Tor 2 der Berliner Justizvollzugsanstalt Tegel führt. In einem Schließfach werden alle Gegenstände bis auf den Personalausweis abgelegt, es folgt die erste Kontrolle des Ausweises, anschließend führt der Weg durch eine Schleuse, dann die nächste Kontrolle und eine Leibesvisitation, bevor man in kleinen Gruppen in das Haus 3 geführt wird. Hier führt die Gefängnistheatergruppe »Philoktet« von Heiner Müller auf, das Haus 3 ist nicht mehr in Betrieb und steht leer. Eine Treppe führt vom Erdgeschoss über mehrere Etagen in die Höhe, das Ende ist kaum zu sehen. Der Raum ist sehr schmal. Durch die Fenster an der Rückwand leuchten matt die gelblichen Laternen vom Hof.
Das 1898 errichtete und mehrmals erweiterte Strafgefängnis in Tegel ist nach dem sogenannten Pennsylvanischen System errichtet, das die Isolierung der Gefangenen in Einzelzellen vorsieht. In der JVA Tegel wird aber immer wieder Doppelbelegung praktiziert und der Strafvollzug generell verschärft (vgl. Jungle World 2/13). In Tegel, einer der größten und ältesten Justizvollzugsanstalten Deutschlands, gibt es aber auch eine Tradition der Selbstorganisation von Gefangenen: Die Gefangenenzeitschrift Der Lichtblick – derzeitige Auflage nach eigener Angabe 7 500 Exemplare – erscheint seit 1968 unzensiert, im Mai 2014 gründeten Insassen der JVA Tegel eine Gefangenengewerkschaft. Und seit 1997 macht das Projekt aufBruch Theater mit Gefangenen in Tegel.
An Müllers »Philoktet« haben die Darsteller unter Anleitung des Regisseurs Peter Atanassow und weiteren Mitarbeitern sieben Wochen geprobt. Täglich mehrere Stunden nach der Arbeit, außer am Wochenende. Nicht alle haben bis zum Ende der Proben mitgemacht, letztlich spielen 18 Männer auf der großen Treppe im Haus 3. Während des Trojanischen Krieges suchen der Heerführer Odysseus und der Krieger Neoptolemos den Bogenschützen Philoktet auf der Insel Lemnos, um ihn für die Armee der Griechen zu gewinnen. Doch Philoktet ist Odysseus keineswegs wohlgesonnen. Dieser hatte ihn nämlich auf der einsamen und menschenleeren Insel ausgesetzt, als er von einer Schlange gebissen wurde und die Griechen seine Schmerzensschreie und den Gestank seiner Wunde nicht mehr aushalten konnten. Neoptolemos wiederum ist ebenfalls mit Odysseus verfeindet, weil er die Rüstung seines Vaters Achill raubte. Und nun will Odysseus mithilfe seines Feindes Neoptolemos seinen Feind Philoktet gewinnen. Doch anstatt zu einer Koalition zwischen den Gegenspielern des Odysseus kommt es zum Totschlag des Philoktet durch Neoptolemos, der anschließend gemeinsam mit dem Griechenführer und der Leiche des Ausgestoßenen gen Troja zieht. Die drei Figuren werden von dem Gefängnisensemble in Gruppen dargestellt, teilweise sprechen Einzelne, teilweise ertönt der Text im Chor.
Heiner Müller sprach in Hinblick auf die tragische Figurenkonstellation des »Philoktet« von dem »Negativ eines kommunistischen Stücks«, jede Figur folgt einer strikten Logik, so dass sich ein unlösbarer Widerspruch auftut – und die Abwesenheit eines in die Handlung eingreifenden, die tödliche Zwangsläufigkeit stoppenden Chores schmerzhaft bewusst wird. Orientiert sei »Philoktet« an der »Klassenstruktur der abgebildeten Gesellschaft«, so Müller, die Handlung zitiere Vorgänge der Geschichte, die sich wiederholen, auf jeweils anderer Entwicklungsstufe. Ein Umstand, der im vergangenen Jahr großartig in einer Inszenierung von »Philoktet« in der Regie von Marcel Kohler am Bat-Studiotheater, der Bühne der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, verdeutlicht wurde. Am Ende stürzten Hunderte blecherne Masken auf die Bühne, erst wenige, dann in großen Mengen, so dass die Geschichte des Theaters als Geschichte der Gewalt und des Versuchs ihres Banns anschaulich, aber vor allem hörbar wurde: vom Schwertkampf bis zum vollautomatischen Maschinengewehr und Flächenbombardement.
»Philoktet« behandelt die Frage von Ausgestoßenen und Außenseitern und deren Integration, die auch über die Leichen der zu Integrierenden geht, sollte es erforderlich sein. Trauer bestimmte die Inszenierung in Tegel, einer der Darsteller sang türkische Trauergesänge, am Ende erschallte ein Begräbnisgesang von Johannes Brahms. Müller war selbst ein Außenseiter, als er »Philoktet« schrieb. Wegen der von B. K. Tragelehn verantworteten Aufführung von »Die Umsiedlerin« an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst wurde Müller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und bekam für einige Zeit kaum Theateraufträge. 1965, im Jahr des 11. Plenums des ZK der SED, das für die Kulturpolitik der DDR eine Zäsur bedeutete, erschien »Philoktet« in der Zeitschrift Sinn und Form als Bearbeitung des antiken Stoffs von Sophokles. Damit fällt »Philoktet« nicht nur in Müllers Werk, sondern auch in der DDR-Dramatik in den Zeitraum, in dem die Arbeit an Gegenwartsstoffen durch die an antiken Stoffen ersetzt wurde. Das war zum einen ein Gewinn an künstlerischer Freiheit und bot zum anderen die Möglichkeit, in großen historischen Zusammenhängen zu denken und zu schreiben.
»Unruhe angesichts eines Kunstwerkes« betitelte Müllers Schriftstellerkollege Peter Hacks einen Text über »Philoktet« und schrieb, dass diese »vollkommene Tragödie von vollkommener Bauart in vollkommenen Versen verfasst« sei. Nun ist diese Überhöhung ein rhetorischer Trick von Hacks, denn angesichts solcher Vollkommenheit befällt ihn Unruhe. Vollkommenheit könnte sich als schal erweisen, wenn sie sich nicht auch der Zeit angemessen zeige. Hacks kommt aber zu der Schlussfolgerung, dass der Vers im »Philoktet« ein Grenzereignis darstelle, in dem die »tatsächliche Barbarei der Welt im Stoff und ihre mögliche Schönheit in der Form« widergespiegelt sei. »Die Schönheit dieser Verse hat von der Farbe des Gegenstandes. Sie ist utopisch und aber zugleich archaisch, anmutig und düster, ungeheuer in beiden Bedeutungen des Wortes. Ist am Ende der Philoktet-Vers in seiner mehr als menschlichen Schönheit barbarisch?«
Die frühen Stücke Heiner Müllers lohnen sich wegen der Sprache und Stoffwahl zu lesen. Der Gestus der späten Stücke ist der herrschenden Postdramatik zu ähnlich, um Unruhe beim Leser und Betrachter auszulösen. Doch Texte wie »Lohndrücker«, »Umsiedlerin«, »Der Bau«, »Zement« und eben auch »Philoktet« haben eine dramatische und literarische Qualität, die der gegenwärtigen Dramatik und in Teilen auch Müllers Spätwerk fehlen. Und im Tegeler Gefängnistheater konnte man sehen, welch eine Wirkung der im strengen Vers gesprochene Text entfalten kann. Alle Darsteller zeigten sowohl einzeln wie im Chor außerordentliche Leistungen.
Nach der Vorstellung gibt es ein Gespräch mit den Darstellern, formlos, freundlich und ungezwungen. Als die Wärter mit den Schlüsseln klirren, trennen sich die Gesprächspartner, die einen werden in Zellen verbracht, während die anderen über den Hof, durch die Schleuse, an der Mauer und den Türmen vorbei in die Nacht treten. Warum das so sein muss? Vielleicht ist das auch eine der falschen und fatalen Zwangsläufigkeiten, von denen »Philoktet« handelt.

Eine letzte Vorstellung dieser »Philoktet«-Inszenierung ist am 18. Dezember um 18 Uhr in der JVA Tegel zu sehen.