Flüchtlinge, German Angst und die Grenzen der europäischen Idee

Absonderung der Barbaren

Spiele ohne Grenzen war gestern. Im ­Angesicht der sogenannten Flüchtlingskrise geht es immer mehr europäischen Politikern nur noch um Abschottung – sowohl zwischen den europäischen Staaten als auch nach außen. Offen bleibt die Frage, auf welcher Seite der Grenze die Barbaren wohnen.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat unlängst »Flüchtling« zum Wort des Jahres 2015 gekürt, und auch das Unwort des Jahres 2015 wird wohl aus diesem Kontext stammen. Heiße Kandidaten sind »Asylantenflut« und »Flüchtlingsschwemme«. Das schlichte Wort »Grenze« dagegen steht nicht auf der Shortlist, obwohl sich in ihm nicht erst seit dem Sommer, sondern bereits seit den Tagen des »Grexit« die Kernfrage der »europäischen Idee« manifestiert – ein Begriff, der im Übrigen auch ein gutes Unwort des Jahres abgeben würde. Denn obgleich er zum Standardvokabular aller europäischen Politiker gehört, existiert nicht einmal der Ansatz einer allgemeingültigen Definition dieser »europäischen Idee«. Selbst in der für nahezu jeden Kokolores zu habenden Wikipedia hat sich noch niemand daran versucht. Als beste Treffer erhält man hier die luxemburgische Stiftung Mérite Européen, den Europarat, den deutschen Filmregisseur Harald Braun, der sein Handwerk zwischen 1937 und 1945 an der UFA erlernte, die Internationalen Kurzfilmtage in Winterthur und die Historische Kommission beim SPD-Parteivorstand. »Vive l’Europe!«, möchte man ausrufen.

Lauscht man den Sonntagsreden europäischer Politiker oder zieht die Laudatio zur Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU 2012 zu Rate, dann wurde die europäische Idee aus dem Grauen zweier Weltkriege geboren, die in Europa ihren Anfang nahmen. Das klingt im Rückblick durchaus einleuchtend, stimmt aber leider nicht. Wenn es überhaupt einen politischen Gedanken gab, der das Zusammenwachsen (West-)Europas in seinen Anfängen beförderte, so war dies die Konfrontation mit den Staaten des Warschauer Pakts, und die Manifestation dieses Gedankens war entsprechend eher die Nato als die in der ersten Nachkriegszeit noch unabsehbare Europäische Union. Deren Anfänge waren in erster Linie wirtschaftlicher Natur, und dieser ökonomische Impetus treibt sie bis heute. Der lange Weg von der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) 1951 über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 und die Europäische Gemeinschaft (EG) 1967 bis hin zum Maastrichter EU-Vertrag 1992 zielte im Kern immer nur auf einen europäischen Binnenmarkt. Kein Wunder also, dass der Versuch, sich 2004 so etwas ähnliches wie eine gemeinsame Verfassung zu geben, an der Tatsache scheiterte, dass der »Vertrag über eine Verfassung für Europa« eher ein neoliberales Wirtschaftsmanifest darstellte und die zivilisatorischen Ansprüche, die die Europäer gern für sich in Anspruch nehmen, nur en passant abhandelte.
Erstaunlich, dass sich trotz dieser Herkunftsgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten bei vielen Einwohnern der EU-Staaten tatsächlich eine vage europäische Idee verbreitet hat. Mag diese auch mehr auf Auslandssemestern, Eimertrinken am Ballermann, französischem Wein und italienischer Pasta gründen als auf humanistischen Idealen, ist sie inzwischen doch eine relativ feste Größe, und ihre Apologeten ergötzen sich insbesondere an den Reiseerleichterungen durch offene Grenzen und gemeinsame Währung. Aus den lange vergangenen Tagen der sozialen Marktwirtschaft hat sich das Gefühl erhalten, Europa prak­tiziere einen Kapitalismus mit irgendwie menschlicherem Antlitz, sei sozialer, gebildeter und weltoffener als etwa die USA, die ja weder über ein vernünftiges Gesundheitssystem noch ein soziales Netz verfügten. Dass diese einstigen Errungenschaften seit den Tagen von Gerhard Schröder und Tony Blair auch in Westeuropa immer weiter reduziert und in den osteuropäischen Beitrittsländern ohnehin bis heute nicht aufgebaut wurden, spielt für das europäische Selbstwertgefühl in der Regel keine Rolle. Dessen Träger und inoffizielle Botschafter sind ja vornehmlich diejenigen, die eben nicht auf Transferleistungen welcher Art auch immer angewiesen sind. In dieser oft totgesagten, aber zäh weiterexistierenden Mitte der Gesellschaft lebt ein spezifisch europäisches Versprechen und überträgt sich fortlaufend auch in die prekären Schichten.
Die per nächtlichem Bummelzug aus Warschau mit einer Palette Zywiec-Bier zum Depeche-Mode-Konzert im Berliner Olympiastadion angereisten jungen Polen empfinden dieses vielleicht sogar stärker als der deutsche Reihenhaus-Sprössling, der jedes zweite Wochenende mit Papas Bonusmeilen zu Partys in Barcelona, Paris oder London jettet. Ja, selbst die aus bloßer Perspektivlosigkeit auf ihren heimischen Arbeitsmärkten als Barpersonal im Prenzlauer Berg gestrandeten Spanier und Italiener repräsentieren dieses Versprechen. Insofern war die Aufhebung der Kontrollen an den europäischen Binnengrenzen Kernanspruch jeder wie auch immer sonst gearteten europäischen Idee.
Wie fragil dieses Gemeinschaftsgefühl aber ist und wie bedeutungslos letztlich auf politischer Ebene, wurde 2014/15 sowohl in der sogenannten Griechenland-Krise als auch angesichts der Flüchtlingsthematik und der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus deutlich: Die offenen Grenzen standen jeweils als Erstes zur Disposition. Und das ist – zumindest in Deutschland – wahrlich nichts Neues. Man erinnere sich nur an die bizarren Debatten, als mit Einführung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1.Januar 2014 angeblich »die soziale Balance und der ­soziale Friede in den Städten in höchstem Maße gefährdet« wurde, nämlich durch die »Armuts­zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien«, wie es damals in einem Positionspapier des Deutschen Städtetags hieß. »Armutsmigranten« war seinerzeit der gängige Euphemismus, um die dem Widerstand »bis zur letzten Patrone« (Horst Seehofer) zugrundeliegenden rassistischen Ressentiments gegen zuwandernde Roma zu verschleiern. Die Hilfsmittel, über die diskutiert wurde, um das deutsche Staatsgebiet vor der gefühlten Bedrohung durch ungezähmte Fremde zu schützen, hießen schon damals: Grenzschließung, Kennzeichnungspflicht und Abschiebung. Und natürlich war es 2015 abermals Horst Seehofer, der die bayerische Grenze zum Bollwerk gegen Flüchtlinge machen wollte. Denn aus der CSU tönt seit jeher zuverlässiger noch als aus der CDU oder ihrer neuen Schwesterpartei SPD jener hässliche deutsche Konservativismus, der von sich behauptet, dem »einfachen Mann auf der Straße«, ja, dem »Volk« eine Stimme zu geben. Und das Volk, für das da gesprochen wird, sind (man möchte fast sagen: selbstverständlich) nicht die Willkommensinitiativen, die hier bereits lebenden Migranten oder auch nur die liberal-bürgerliche grünen Ökos. Nein, dieses Volk sind immer die sächsischen Pegida-Demonstranten, die »besorgten Bürger« und die Anhänger der konkurrierenden Ressentiment-Partei AfD – jener überall in Europa langsam aufsteigende identitär-reaktionäre Bodensatz, der glaubt, mit immer kleinteiligerer Parzellierung und immer höherer Mauern der diffusen Bedrohungslage der Globalisierung entgegentreten zu können. Der also glaubt, mit dem Errichten von Mauern die Hoheit über ein Gebiet sicherstellen zu können, das ihm, allen Stammeswanderungen der Menschheitsgeschichte zum Trotze, genetische Heimat zu sein scheint.

Dass der stets von Ängsten und Ressentiments geleitete Konservatismus zu anderen Zeiten zwar auch nicht menschenfreundlicher, aber strategisch immerhin deutlich gewiefter agierte, zeigt beispielhaft der sogenannte Asylkompromiss von 1993, der mit dem Prinzip der »sicheren Drittstaaten« sämtliche europäischen Nachbarländer zu einer Art Pufferzone machte, bei deren Durchquerung jeder Flüchtling automatisch des deutschen Grundrechts auf politisches Asyl verlustig ging. Dieser Schutz eines Kerngebiets nicht durch bewehrte Grenzanlagen, sondern durch Grenz­regionen erinnerte an historische Vorbilder. So umgaben sich etwa das fränkische und das ihm nachfolgende Heilige Römische Reich (noch ohne den Zusatz »deutscher Nation«) im Früh- und Hochmittelalter gen Osten hin mit Marken, die ihrerseits keine klare Ostgrenze hatten. Und auch das antike Imperium Romanum definierte sein Reichsgebiet lange Zeit über solche offenen Einflussräume. In beiden Fällen drückte sich darin der Wille zur beständigen Expansion aus und zumindest bei den antiken Römern auch die feste Überzeugung, die höchste Zivilisationsstufe zu repräsentieren. Als legitime geistige Kinder des Hellenismus sahen sie diese aber nicht als exklusiven Schatz, sondern als ein Glücksversprechen an den Rest der Welt und konstituierten ihr Imperium folglich ganz im Sinne des griechischen Philosophen Isokrates: »Grieche ist man nicht durch Geburt und Aussehen, sondern durch Vernunft und Bildung.« Erst mit der Regierungszeit Kaiser Hadrians (117–138) wurde dieser Anspruch nach und nach ad acta gelegt, wurden »mit großen Pfählen, die in der Art einer Mauer tiefgegründet und verbunden waren, die Barbaren abgesondert«. (Historia Augustus) Genutzt hat es den alten Römern am Ende wenig, wie wir wissen. Ob Pufferzonen oder Mauern: Jede Grenze ist dazu da, überwunden zu werden und wird auch überwunden werden.

Eine europäische Gesellschaft, die ihre zivilisatorische Idee als exklusiven Club betrachtet und betreibt, negiert sich selbst. Ein Europa, das im Sinne der identitären neuen Rechten nicht mehr darstellt als eine Kleingartenkolonie völkisch definierter Parzellen, deren einzige Bindeglieder die Wörter »weiß« und »christlich« sind, ist auf Dauer nicht mal ökonomisch zu halten, wie an der unseligen Grexit-Debatte offensichtlich wurde. Wirtschaftsliberale wissen das, und so ist auch Angela Merkels Kernsatz auf dem CDU-Parteitag zu verstehen: »Abschottung ist im 21.Jahrhundert keine Option«. Nein, das war sie in keinem Jahrhundert, und dennoch scheinen die identitären Abschotter derzeit in der Mehrheit zu sein. Nicht nur in Ungarn, Polen, Sachsen oder Bayern, auch in Merkels eigenem Kabinett, wo Innenminister Thomas de Maizière mit seinen Asylideen inzwischen noch hinter die Genfer Konvention zurückfällt und selbst Familienministerin Manuela Schwesig bei Anne Will gegen jede Kriegs­realität von festen Kontingenten träumt.
Wohin dieser Weg der Abschottung führt – nämlich letztlich in die Barbarei –, beschrieb der anarchistische Schriftsteller B. Traven bereits im Jahr 1926: »Das feste Land ist mit einer unübersehbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines Sinns entwickeln will und muss, dem einzelnen Menschen, der nummeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen müssen.«