Grenzregimes in der Sexualität

Im Bett mit Habermas

Bloß nicht! Dann doch besser mit Kant einschlafen. Ein Plädoyer für die Abschaffung des Grenzregimes in der Sexualität.

Schon viele Jahre vor gewissen EU-Ländern hat die hiesige Linke die Grenzkontrollen wieder eingeführt. Davon zeugen Plakate in zahlreichen Szenelokalitäten, auf welchen unter einem großen »NEIN HEIßT NEIN!« das sogenannte Zustimmungskonzept erläutert und eingefordert wird. Dieser manchmal auch als Konsensprinzip bezeichnete Sittenkatalog »definiert das freiwillige und ausdrückliche Einverständnis aller Beteiligten zu einer spezifischen sexuellen Handlung«. Dies heißt, dass jeder einzelne Schritt, mit dem zwei Menschen körperlich aufeinanderzugehen, durch eine vorherige Frage legitimiert werden soll. Nur im Falle einer deutlichen verbalen Zustimmung (Nur Ja heißt Ja!) soll der nächste Schritt erfolgen – und dies »immer wieder und jedes einzelne Mal und für jede sexuelle Handlung«, ganz so, als läge man im Bett mit Habermas und übe sich in kommunikativem Handeln.
Verhindert werden sollen dadurch die sogenannten Grenzverletzungen oder Grenzüberschreitungen der feministisch definierten Sexualität: »Gleichzeitig kann ich es politisch nutzen, stelle nämlich sicher, dass ich keine Grenze überschreite. Die perfekte Kombi«, sagt die Szene-Rapperin Sookee im Interview mit dem Tagesspiegel über das Zustimmungskonzept.
Zustimmen, so heißt es in diesem, solle man nur, »wenn sich das, was ihr da macht, sich gut für dich anfühlt. Also immer, wenn bei dir alles prima ist und du genau auf das, was ihr macht oder anfangen wollt, Lust habt.« Denn nur dann, so wird es von der Initiative »Wir lieben Konsens« suggeriert, liege keine Verletzung des eigenen antisexistischen Schutzwalls vor. Auch könne man nonverbal, aber dann bitte mit »Kärtchen auf dem Nachttisch«, den Unmut ausdrücken. Die rote Karte müsse man beispielsweise ziehen, »sobald sich etwas nicht gut anfühlt. Also immer, wenn du unsicher bist (…) und in allen anderen Fällen, wo du keinen Spaß hast an dem, was gerade passiert«. Eine Grenze ist demnach sogar schon übertreten, »wenn dein Gegenüber passiv ist«. Das Ausleben von Sexualität habe als »oberste Handlungsmaxime ein respektvoller Umgang ohne Grenzverletzung« zu sein. Man könnte hier fragen, ob ein Sexualakt im Idealfall jenseits von Respekt angesiedelt ist, da die Distanz des Alltags aufgehoben wurde. Ganz sicher kann man aber sagen, dass Geschlechtsverkehr in jeglicher Form per se eine Grenzverletzung oder -überschreitung darstellt und dass dies sogar der eigentliche Zweck des Ganzen ist. Das, was gewöhnlich als »persönliche Grenze« gilt, ist begrifflich eine vage Angelegenheit. Ein Trugschluss ist, dass man auf sprachliche beziehungsweise körperliche »Reize« gleich reagiert, dass man die körperliche Annäherung quasi eins zu eins kommunikativ vorwegnehmen könne. So schrieb Sigmund Freud in »Das Ich und das Es«, das bewusste Ich »sei vor allem ein Körper-Ich«. Das Vorbewusste hingegen, »das sich an die Erinnerungsreste anlehnt« und Wortvorstellungen bedient, also angesprochen wird, nimmt nur scheinbar auf dieselbe Weise wahr: »Bei einer Überbesetzung des Denkens werden die Gedanken wirklich – wie von außen – wahrgenommen und darum für wahr gehalten.« Der Unterschied besteht quasi darin, dass sich eine Frage nur auf Vergangenes beziehen kann, während eine körperliche Wahrnehmung ein etwas höheres Überraschungspotential bereithält.
Selbstverständlich sollte jeder jederzeit sein »Veto« einlegen können – wie es im Szeneduktus heißt. Spontanität hingegen sieht anders aus, als gemeinsam einen Fragenkatalog mit Vertragscharakter abzuarbeiten. Immanuel Kant beispielsweise steht nun nicht gerade in dem Ruf, ein großer Verfechter der sexuellen Freiheit oder gar ein Libertin der Sitten gewesen zu sein. Doch liest sich seine Tugendlehre geradezu befreiend im Vergleich zum heutigen linken Moralkodex. Es heißt dort zur »Geschlechts­gemeinschaft«: Diese sei »der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht« sowie »ein Genuss, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet.«
Gilt im Französischen der Orgasmus als la petite mort, als kleiner Tod, so kann ohne große Phantasie der Geschlechtsakt als »das kleine Sterben« betrachtet werden, womit die notwendige Selbstaufgabe gemeint wäre. In der lustvollen Verbindung mit einem anderen Menschen ist es also zwingend, sich bis zu einem gewissen Grad als autonome Person zu negieren und als Objekt zu fühlen. Wohingegen eine nahezu krampfhaft immer bewusst bleibende Sexualität im wortwörtlichen Sinne schlichtweg Keuschheit ist oder aber den Charakter einer Sportveranstaltung annimmt: Es gibt ein Reglement, das die Grenzen des Spielfelds und der Zeit festlegt, um den Wettbewerb der beteiligten Subjekte fair zu gestalten.
Kants Zeitgenosse, der Marquis de Sade, hat literarisch und sprachlich in allem Ausmaß zugespitzt, was wir schon im Kleinen kaum mehr vermögen – wortlose Hingabe. Es mag im Einzelnen tatsächlich mehr als nur dezent bestialisch sein, aber die Denunziation der Sexualmoral vor über 200 Jahren durch seine Juliette ist eine der eindrucksvollsten, die es in der Literatur jemals gab. »Sobald wir nicht an Gott glauben«, sagt sie, »sind die Entweihungen, die du wünschst, nichts mehr als unnütze Kindereien.« Auf eine garstige Weise ist es dann auch nahezu absolut konsequent, dass die sittsame Justine, ihre Schwester und Protagonistin des Geschwisterromans, nach allem Leid sogar noch vom Blitz erschlagen wird, während die verdorbene Juliette in Reichtum ihr restliches Dasein fristen kann. Jede gegen christlichen Fundamentalismus gerichtete Verkündung der Perversität wird auch heute noch Lügen gestraft durch den Sittenkodex, welcher sexuelle Reinheit und Abgegrenztheit verkündet, die sich gerade von jenen kaum unterscheidet. Der kleinbürgerliche Rat aus der »Philosophie im Boudoir« ist in seiner tiefen Ironie gültig wie eh und je: »Bewacht Eure Grenzen und bleibt bei Euch!« Überspitzt sichtbar ist darin die Angst vor der Passivität, die auch eine vor Verführung ist, und die Unfähigkeit, sich hinzugeben, sich zu schenken, ohne im Vorhinein ein Äquivalent dafür zu erwarten.
»Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt«, heißt es bei Adorno, denn »das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet«. Im gleichen Maße verkühlt sich die Sexualität an den Grenzen, welche das schwache Ich aus Verkennung der eigenen Wünsche um sich herum aufrichtet, da es das eigene Begehren nur noch als Anweisungen zu artikulieren weiß, sich dies aber aus Konformität gar nicht traut.