Proteste gegen eine Überlandleitung in Italien

Streit um die Leitung

In den italienischen Abruzzen wehren sich Anwohner und Umweltgruppen gegen ein Überlandleitungsprojekt. Das verantwortliche Energieunternehmen hat gegen eine Kritikerin Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe gestellt.

Silvia Ferrante führt ein ruhiges Leben. Vor fünf Jahren zog sie von Rom zurück in das Landhaus ihres Vaters in Paglieta in den Abruzzen. Zusammen mit ihrem Partner wollte sie hier ihren Sohn Libero, was auf Italienisch »frei« bedeutet, inmitten der Natur großziehen. Am 29. November wurden gegen die 37jährige Schadenersatzforderungen in Höhe von 16 Millionen Euro erhoben. Das italienische Energieunternehmen Terna S.p.A. erstattete Anzeige gegen rund 55 Landbesitzer und Mitglieder der Bewegung »No Elettrodotto 380 kV Villanova-Gissi«, die sich gegen Überlandleitungen in der Region engagieren. Europas größter Stromnetzbetreiber warf Ferrante vor, das Leitungsprojekt verzögert zu haben, indem sie Landenteignungen in 24 Fällen mit Gewalt verhindert habe. Dafür erhielt sie 24 Schadenersatzforderungen wegen der Unterbrechung von öffent­lichen Dienstleistungsmaßnahmen. Das umstrittene Infrastrukturprojekt betrifft die zentral­italienischen Abruzzen, die als Europas grünste Region gelten. Ein Drittel der Abruzzen machen Nationalparks und Naturschutzgebiete aus.
Auf der Pressekonferenz am 2. Dezember bezeichneten die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden Lanciano, Castel Frentano und Paglieta das Verhalten Ternas als »arroganten und einschüchternden Akt«, um »Bürger abzuschrecken, die gegen ein Projekt sind, auf das man sich nicht geeinigt hat«. Gegen die drei Bürgermeister liegen ebenfalls Beschwerden beim regionalen Verwaltungsgericht vor. Am selben Tag ließ Terna verlautbaren, dass seine rechtlichen Schritte »fällige Maßnahmen« seien, da das wichtige Projekt nicht verzögert werden könne und sowohl das Unternehmen als auch die »ganze Gemeinschaft« geschädigt würden, da die Abruzzen unter einem »Energiedefizit von 32 Prozent« litten.
Silvia Ferrante bestreitet, Sabotage betrieben zu haben. Aus Solidarität mit den Landbesitzern habe sie versucht, über die Enteignungen, die Terna 2014 begonnen hatte, zu informieren. »Meine bloße Anwesenheit als Zeugin: Ist das Gewalt?« fragt sie im Gespräch mit der Jungle World. »Für mich sieht das eher nach Einschüchterung gegen abweichende Meinungen aus«. »Wir sollten immer fragen, wie Energie produziert, verteilt und verwaltet wird«, fügt sie hinzu, »und wie negative Auswirkungen und Abfall minimiert werden können.«

Das erste geothermische Kraftwerk der Welt wurde 1911 in der Toskana gebaut. Dennoch war 2014 der Anteil erneuerbarer Energiequellen an der Elektrizitätserzeugung, wie Wind- (5,4 Prozent) und Solarenergie (acht Prozent), in Italien marginal. Das Land ist Nettoimporteur von Strom, vor allem aus der Schweiz und Frankreich, und seine Hauptenergiequelle ist Erdgas. Nachdem Italien 2003 von den schlimmsten Stromausfällen in 70 Jahren betroffen war, gehörten zu den Maßnahmen gegen die Unterversorgung die finanzielle Förderung von Energieimporten und der Bau von Ausgleichsleitungen. Letztere ermöglichen es, dass Energie zwischen verschiedenen Netzen fließen kann, insbesondere werden internationale Verbindungen zwischen Strom- oder Gasnetzen geschaffen. Obwohl die italienische Energieerzeugung 2012 wieder Überkapazität ­erreichte – dem Stromversorger Enel zufolge 40 Prozent – hatte sich die Regierung unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi 2009 mit Montenegro darauf geeinigt, erneuerbare Energie zu importieren. Doch die Energieerzeugung in Montenegro ist alles andere als ökologisch: Etwa zwei Drittel des Stroms stammen aus fossilen Brennstoffen, etwa aus dem Braunkohlekraftwerk in Pljevlja. Das italienische Unternehmen A2A hält knapp 42 Prozent der Anteile am Kraftwerk und plant derzeit einen Ausbau, trotz Protesten von NGOs gegen einen der »schmutzigsten« fossilen Energieträger.
In den Abruzzen soll Ternas Ausgleichsleitungsprojekt realisiert werden. Eine Milliarde Euro teure Unterwasserstromleitung soll die Balkan-Küste mit der neuen »elektrischen Schnellstraße«, der 380 Kilovolt-Überlandleitung, verbinden. Diese soll sich über 70 Kilometer durch 16 Gemeinden erstrecken, verteilt auf 19 Kabel auf bis zu 80 Meter hohen Strommasten – höher als der Turm von Pisa. Ein Drittel der Masten soll in Gegenden stehen, die als erdbebengefährdet gelten.

»No Elettrodotto« hat Fakten und Gutachten zusammengetragen und gemeinsam mit anderen Gruppen drei Dossiers erstellt. Die Gründe für das Nein zur Überlandleitung sind energetische und infrastrukturelle Probleme, die rechtliche und technische Vorgehensweise und die Folgen für Umwelt und Gesundheit. Die Gegner des Projekts behaupten, der Energiekonsum in den Abruzzen gehe wegen der ökonomischen Krise, Energieeinsparungen und Effizienznormen zurück. Regionale Kraftwerke sollten daher bereits in der Lage sein, genug Energie zu produzieren und zu ver­teilen. Sie kritisieren Terna dafür, dass es nur ein Prozent seines Budgets in den Erhalt der existierenden Infrastruktur investiere, verglichen mit einer Milliarde Euro für neue Übertragungsanlagen. Nach den letzten Schneeunglücken wurden viele mittlere und kleine Leitungen abgeschaltet.
Die Kritiker weisen zudem darauf hin, dass 55 der 151 geplanten Maststandorte eine schwankende hydrogeologische Stabilität aufwiesen, ­einige sogar durch Erdrutsche gefährdet seien. Sie monieren, dass das Methanlager in Poggiofiorito, das nur 200 Meter von der Leitung entfernt liegt, nicht in der Umweltverträglichkeitsprüfung berücksichtigt wurde. Schließlich beleuchten sie bürokratische und rechtliche Unregelmäßigkeiten wie fehlende Dokumentation sowie Unstimmigkeiten zwischen genehmigten und realisierten Projekten. So stehen an manchen Orten einzelne hohe Pfeiler, an denen ursprünglich Gittermasten geplant waren. Bemängelt wurden fehlende Partizipationsmöglichkeiten der Bürger am Projekt; sie seien nie beteiligt und erst nach der Genehmigung für Terna kontaktiert worden und hätten ungerechte Entschädigungsverträge erhalten. Viele sorgen sich auch vor Gesundheitsgefahren durch »Elektrosmog« und vor dem statistisch erhöhten Risiko für Kinder, an Leukämie zu erkranken, insbesondere nachdem den Landbesitzern offiziell verboten worden war, sich länger als vier Stunden täglich unter den Leitungen aufzuhalten.

Terna will die Überlandleitung bis zum 30. Dezember in Betrieb nehmen. Auf Silvia Ferrantes Familie kann ein unangenehmer Rechtsstreit zukommen, doch der Widerstand ist breit. Am 4. Dezember haben Umweltorganisationen wie Legambiente und WWF die Terna aufgefordert, innezuhalten, und verlangt, die Politik solle »ernsthaft intervenieren und ein für alle Mal zeigen, dass die Abruzzen kein Niemandsland sind«. Die nationale Organisation »No Elettrodotti« bündelt den Widerstand gegen Ternas neue 380 Kilovolt-Überlandleitungen in der Toskana, den Marken, Venetien, Sizilien und Sar­dinien. Sowohl Bürger als auch lokale Behörden haben in den vergangenen Jahren immer öfter gegen Infrastrukturprojekte und die Energiepolitik protestiert. 2013 demons­trierten 40 000 Menschen in Pescara gegen die Energiepolitik der Regierung, die wieder verstärkt auf fossile Energie setzt; vergangenes Jahr gingen in Lanciano 60 000 Menschen auf die Straße.
In ganz Italien sind Bewegungen und Gruppen entstanden, die sich für den Erhalt und die Verteidigung öffentlicher Güter und Gebiete einsetzen und über diese Themen informieren. Im Rahmen der Pariser Klimakonferenz (COP 21) haben viele die Energiepolitik der Regierung Matteo Renzis kritisiert, die unter dem Motto »Sblocca Italia« (Italien entsperren) den Weg zu noch mehr Erdölbohrungen und Verbrennungsanlagen freimache. Die Kritiker tauften die Strategie in »Fossile Kraftstoffe entsperren« um.
Obwohl sie sich bedroht fühlt, will Ferrantes Familie nicht gehen. »Italien wird zu Europas Drehscheibe im Plan für die Lieferung von Energie, indem es sie von Süden nach Norden und von Osten nach Westen transportiert«, meint sie. Die Abruzzen, »Europas Lunge«, würden zu einem »Bergbaugebiet« degradiert.