Gisela Dachs: »Grenzen. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Institute«

Walk the Line

Die Erfahrung von Ausgrenzung und Marginalisierung ist prägend für die jüdische Geschichte.

iddisch, hat Franz Kafka 1912 in einem Vortrag angemerkt, sei eine Sprache »aus Fremdwörtern«, voller »Eile und Lebhaftigkeit« – grenzüberschreitend und wurzellos. Auch wenn Kafka auf Deutsch und nicht auf Jiddisch schrieb, so eint ihn mit den jiddischen Schriftstellern Osteuropas der Blick eines Vertreters der jüdischen Minderheit auf die Mehrheitsgesellschaft. Doch Jiddisch ist ebenso vom Nationalsozialismus zerstört worden wie die osteuropäische jüdische Lebenswelt.
»In Europa leben Juden nur als Geister weiter«, schreibt Natan Sznaider, die osteuropäisch-jüdische Kultur, die sich dadurch ausgezeichnet hat, viele Einflüsse in sich zu vereinen – deutsche, polnische und russische, die religiöse und säkulare Tradition des Judentums, Alltag und Hochkultur, Kabbala und Klezmer – existiert nicht mehr. »Sie haben eine einzigartige Kultur vom Boden getilgt: die der Jiddischkeit«, hat Alain Finkielkraut in seinem Buch »Der eingebildete Jude« geschrieben, weswegen er zu einem jüdischen Luftmenschen geworden sei: »Der Luftmensch von heute ist ein Jude im Zustand der Schwerelosigkeit, erleichtert um das, was sein symbolisches Universum, sein besonderer Ort oder zumindest eines seiner Domizile hätte sein können: das jüdische Leben.« Sei es in Bildern wie jenem des Luftmenschen und Stalins Vorwurf, Juden seien »wurzellose Kosmopoliten«, dem antisemitischen Stereotyp des »Wandernden Juden«, dem Leben in der Diaspora und der Entstehung des Zionismus, oder den Konflikten um die israelischen Grenzregionen: Grenzziehungen und -überschreitungen, Ausgrenzungen und das In-die-Grenzen-gewiesen-Werden ist eines der zentralen Themen jüdischer Geschichte, von der alttestamentarischen Wanderung Abrahams von Mesopotamien nach Kanaan bis in die Gegenwart, in der eine weithin sichtbare Grenze in Form einer Mauer jüdische Israelis vor Anschlägen schützen muss. All diese Grenzen thematisiert die aktuelle Ausgabe des von Gisela Dachs im Jüdischen Verlag herausgegebenen »Jüdischen Almanach« und zieht dabei ebenfalls eine Linie durch die gesamte jüdische Geschichte, durch Religion und Tradition.
Das Judentum war den Großteil seiner Geschichte vor allem gekennzeichnet durch das Fehlen von nationalen Grenzen, das Fehlen eines eigenen Landes. »Jüdische Geschichte beginnt mit Exil«, schreibt Natan Sznaider in seinem Beitrag zum Almanach. Während das Exil jedoch vor allem als Strafe aufgefasst worden sei, die Vertreibung aus dem Paradies als Beginn des menschlichen Exils und die Vertreibung aus dem Heiligen Land als Beginn des jüdischen Exils, steht dem gegenüber der Begriff der Diaspora, in dem durchaus eine Chance aufscheint, »sicher in sich ruhend« mit anderen Gesellschaften zu leben. Diaspora, schreibt Sznaider weiter, »ist kein theoretisches oder diskursives Konzept, sondern Teil der historischen Lebenserfahrung.« Allerdings einer Lebenserfahrung, die immer von anderen Grenzen gekennzeichnet war, jenen nämlich, die die Mehrheitsgesellschaft zog. Denn neben Flucht und Wanderschaft ist auch das Gefühl, gleichzeitig Teil und nicht Teil der Gesellschaft zu sein, jenes, das Juden immer wieder spüren mussten, obwohl sie mit der Französischen Revolution und dem »Postulat der universellen Gleichheit aller Menschen« zwar die Möglichkeit bekommen haben, sich »als Gleiche, das heißt als Deutsche oder Franzosen in Europa zu integrieren, aber eben nicht als Juden«. Natan Sznaider fragt weiter: »Ist es gerade dieses Nicht-Dazugehören, das auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschiedenheit des antisemitischen Staates traf, diese transnationalen jüdischen Kulturen und partikularen Kleingesellschaften im Herzen Europas auszumerzen?«
So wie Jiddisch in Kafkas Wahrnehmung eine Sprache aus Fremdwörtern war, blieben Juden über Jahrhunderte in den Augen der Mehrheitsgesellschaft Fremde, Außenseiter der Aufklärung, die von traditionellen Riten und Gesetzen abhängig blieben und die gleichzeitig zum Symbol für Transnationalität, Heimatlosigkeit, Loyalitätskonflikte und vieles andere mehr wurden.
In diesem Kontext ist auch das Motiv des »Wandernden Juden« oder »Ewigen Juden« zu sehen, das seinen Ursprung in der literarisch überlieferten Weigerung eines Juden hat, Ahasverus, den mit dem Kreuz beladenen Jesus an seinem Garten ausruhen zu lassen. Daraufhin wurde er von Jesus zur ewigen Wanderschaft verdammt. Verbreitet wurde der Mythos im frühen 17. Jahrhundert in Deutschland durch die Schrift: »Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus«, dessen Wirkungsgeschichte sich bis zum NS-Propagandafilm »Der Ewige Jude« (1940) erstreckt – und weit darüber hinaus. Auch diesem grenzüberschreitenden Motiv widmet sich der Almanach in einem Beitrag. Galit Hasan-Rokem geht darin der Frage nach, inwieweit dieses Bild zwar einerseits eine christliche Projektion ist, die auf eine lange Tradition des Antijudaismus zurückblicken kann, die Wanderschaft jedoch gleichzeitig in der jüdischen Selbstwahrnehmung tiefverwurzelt ist: »Die jüdische Selbstidentifikation als Wanderer beginnt mit dem Gründungsmythos des israelitischen und demzufolge jüdischen Volkes, nämlich der Erzählung von Abrahams Wanderung von Mesopotamien in das Land Kanaan.« In der Moderne, und hier vor allem in der zeitgenössischen hebräischen Literatur, finden sich dagegen Aneignungen des »Ewigen Juden«, in denen die jüdische Mobilität als »Chance für kulturelle Dynamik und eine fruchtbare Interaktion mit anderen Kulturen« beschrieben wird. Doch auch wenn der »Ewige Jude« vielschichtiger als gedacht und eingeschrieben in die religiösen, psychologischen und philosophischen Diskurse des Judentums ist, dominiert doch die antisemitische Ausrichtung des Motivs bis in die Gegenwart. Sie zeigt sich auch in der Angst vor dem vermeintlichen Eindringling, in der Angst vor der Illoyalität des jüdischen »Gastes« gegenüber dem »Gastland«, die nicht zufällig auch einer der Topoi in den »Protokollen der Weisen von Zion« gewesen ist.
Das Bild des vermeintlich heimatlosen und daher illoyalen Juden, des Wanderers, hat Tradition. Schon die sich formierenden Nationalstaaten haben, wie Zygmunt Bauman herausgearbeitet hat, Juden vor allem als Bedrohung wahrgenommen: »Auf dem Kontinent der Nationen und Nationalismen erinnerten nur noch die Juden an die Relativität der Nationalität und der äußeren Grenzen des Nationalismus.« Weiter schreibt Bauman in seinem Buch »Moderne und Ambivalenz«: »Sie stellten genau die Gefahr dar, gegen die die Nationen sich zu konstituieren hatten. Sie waren die letzte Inkongruenz – eine nicht-nationale Nation.«
Als die europäischen Nationen sich konstituierten, setzte auch nach und nach die Erfassung und Zuordnung der Staatsbürger ein. Für die Geschichte des bedeutendsten Dokuments zur Überschreitung von Grenzen, des Reisepasses, ist das Datum des 14. Januar 1858 zentral, an dem ein Anschlag auf Napoleon III. verübt wurde. Der Attentäter Felice Orsini hatte Lücken in den Bürokratien verschiedener Länder genutzt, um eine Einreisevisum nach Frankreich zu erhalten, weswegen in der Folge der Reisepass immer mehr Bedeutung bekam und zu einem nationalen politischen Dokument wurde, zu einem Instrument, das die Reisefreiheit einschränken konnte. Im späten 19. Jahrhundert setzte, wie Yaron Jean in seinem Aufsatz beschreibt, die »Verwissenschaftlichung des Identifizierungsprozesses« ein, etwa durch das Erfassen von Fingerabdrücken. Gleichzeitig wurde der vormoderne Begriff des Fremden ersetzt durch die »administrativ-politische Definition des Ausländers«. Der Reisepass war zu einem Instrument der Exklusion geworden, was vor allem Juden zu spüren bekamen, in Extremform zur Zeit des Nationalsozialismus, als gültige Ausreisedokumente über Leben und Tod entscheiden konnten. Gabriele Anders beschreibt in ihrem Beitrag die Versuche vieler Juden, illegal Grenzen zu überschreiten, oftmals mit Hilfe von Fluchthelfern, und schon damals galt: »Die Tarife, die die Schlepper für ihre Dienstleistungen verlangten, waren von Angebot und Nachfrage abhängig. Je aussichtsloser die Lage der Verfolgten wurde und je riskanter sich die Rettungsunternehmungen gestalteten, desto rascher stiegen die Preise.« Viele Fluchthelfer erhielten nach dem Krieg höhere Haftstrafen als Nazikollaborateure.
Zerstört hat der Nationalsozialismus auch jene Orte, an denen das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden zuvor zeitweilig funktioniert hatte, wie etwa in der Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz, dem »österreichischen Jerusalem«. David Rechter beschreibt in seinem Beitrag die Grenzregionen multiethnischer Staatsgebilde mit unterschiedlichen nationalen Mythen, Narrativen und Identitäten, wie etwa im Habsburger Reich, zu dem die Bukowina seit 1775 gehörte. Trotz dieser Voraussetzungen und der Tatsache, dass Grenzregionen immer fließend und veränderlich sind, wurden Juden im Habsburger Reich dennoch hauptsächlich als Problem gesehen: »Zwei Richtungen trafen hier aufeinander: zum einen die verächtliche Sicht der Aufklärung auf Osteuropa als primitiv und fremdartig, zum anderen eine sehr alte Tradition antijüdischer Feindseligkeit (auch die Juden waren primitiv und fremdartig).« Trotz dieses abschätzigen Blickes gen Osten hatte die jüdische Bevölkerung in der Bukowina selbst ein »ungewöhnlich sicheres und bequemes Leben« – eine »jüdische Erfolgsgeschichte«, die Rechter auf die Randlage im Habsburger Reich zurückführt, wo fern von der großen Politik auf lokaler Ebene Ukrainer, Rumänen, Juden, Deutsche und Polen in einem labilen Gleichgewicht leben konnten. Die Bukovina existiert heute nicht mehr, sie ist aufgeteilt zwischen der Ukraine und Rumänien. Nach dem Zerfall des Habsburger, des osmanischen und anderer Reiche nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Grenzen in Europa neugezogen und festgelegt, wie David Newman in seinem Artikel über Israels nationale Grenzen schreibt. Von den fünf potentiellen Landesgrenzen zu Nachbarstaaten, die Israel besitzt, sind nur die zwei zu Ägypten und Jordanien international anerkannt und durch Friedensverträge besiegelt, die restlichen Grenzverläufe sind Orte wiederkehrender Konflikte.
Aus diesem Grund ist der israelische Alltag bestimmt von der Rolle des Militärs, beispielsweise vom Reservedienst, der die Kindheit der Autorin Kinneret Rosenbloom lange Zeit dominierte, da ihr Vater immer wieder für längere Zeit abwesend war. Sie schreibt in ihrem Beitrag zum Almanach: »Der Reservedienst ist das fehlende Bindeglied, das die Armee mit der Zivilgesellschaft verknüpft, ist vielleicht das, was Israel zu dem macht, was es ist – militärisch, sicherheitsorientiert, verantwortungsvoll, erwachsen, ängstlich und angriffsbereit, und auch wieder das Gegenteil von alldem.« Der Reservesoldat durchbricht klare Identitäten und erinnert daran, »dass wir, solange wir in Israel leben, nie nur in einem dieser Lebensbereiche sein können.«
Ein anderer zentraler Lebensbereich in Israel ist die Religion, die in den Alltag vieler Menschen integriert ist. Dabei haben sich im Laufe der Jahrhunderte Praktiken entwickelt, die die religiösen Gebote dehnen, ohne sie zu übertreten. Ein zentraler Begriff in diesem Bereich ist der Eruv, der das Verbot, am Sabbat außerhalb des eigenen Hauses bestimmte Tätigkeiten auszuüben, abschwächt. Dabei werden die Grenzen des eigenen Haushalts symbolisch erweitert, auf einen Häuserblock, ein Stadtviertel; ein öffentlicher Raum wird umgrenzt und auf diese Weise privat gemacht – die Grenzen können Flüsse, Stadtmauern, Telefonleitungen, oder eigens gespannte Drähte oder Schnüre sein, wichtig ist lediglich, dass sich in der Umgrenzung keine Lücke auftut. Astrid von Busekist beschreibt in ihrem Beitrag diese Praxis, die eine Brücke zwischen Individuen und Gemeinschaften schlägt, da die Voraussetzung für den Eruv die Einigkeit aller innerhalb dieses Bereiches lebender Menschen ist, egal ob religiöse oder säkulare Juden oder eben Nichtjuden. Der Eruv ist ein gemeinsamen Ritual, das die Zusammenarbeit mit dem Außen benötigt; in Wien ist dies gelungen, der Eruv umfasst nahezu die gesamte Innenstadt. Die Unübersetzbarkeit des Begriffs Eruv ist ein Beispiel für den Prozess der »Verfremdung beim Übersetzen«, von dem Gadi Goldberg im den Almanch beschließenden Beitrag schreibt. Angelehnt an Wittgensteins Ausspruch »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt«, setzt der Übersetzer Goldberg auf die Verfremdung als Überschreiten solcher Grenzen, er plädiert dafür, in der Zielsprache Elemente zu belassen, die ihr fremd sind, und die Lektüre dadurch zu erschweren, denn nur so könne jenseits des Inhalts etwas über die Kultur der Originalsprache vermittelt werden. Eine »Sprache aus Fremdwörtern« wird das Deutsche niemals werden, doch die Einwanderung von Begriffen und Verfremdungen aus der Lebenswelt der jüdischen Kultur sind ihr zu wünschen, um dem reibungslosen Ablauf der Sprache der Täter Grenzen zu setzen.

Gisela Dachs (Hg.): Grenzen. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Institute. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2015, 210 Seiten, 16,95 Euro