Philipp Gerber im Gespräch über soziale Proteste in Mexiko

»Die Übergriffe auf soziale Bewegungen nehmen zu«

Seit November gibt es in Mexiko erneut heftige Proteste gegen eine bereits 2013 verabschiedete Bildungsreform, an denen sich unter anderem Zehntausende Lehrer­innen und Lehrer beteiligten. Über die Hintergründe des Protests und die politische Lage in Mexiko sprach die Jungle World mit Philipp Gerber. Er lebt in Oacaxa de Juárez im Süden von Mexiko und ist Koordinator des Mexiko-Projekts von Medico International Schweiz.

Seit drei Jahren versucht die mexikanische Regierung, eine Reform im Bildungsbereich durchzusetzen. Was beinhaltet diese Reform und warum wehrt sich die Gewerkschaft Coordinadora Nacional de Trabajadores de la Educación (CNTE) dagegen?
Die Reform ist konzentriert auf die Anstellungsverhältnisse der Lehrer und Lehrerinnen und nicht auf den pädagogischen Auftrag des Bildungssektors. Es geht um die Liberalisierung des Arbeitsmarktes im Bildungsbereich. Inzwischen hat zum Beispiel auch der Rektor der größten Universität von Mexiko-Stadt bestätigt, dass die Bildungsreform nicht die Bildung zum Thema hat. Letztlich geht es darum, dass die Arbeitsrechte abgebaut werden und so Lehrer und Lehrerinnen keinen Beamtenstatus mehr haben.
Der Auslöser der jüngsten Proteste war der Versuch, eine landesweite Evaluation der Qualität des Unterrichts durchzuführen. Wieso wird diese Evaluierung abgelehnt? Ist es die Sorge, den eingeführten Standards nicht zu genügen, oder gibt es andere Gründe?
Das ist eine schwierige Frage, bei der man verschiedene Aspekte berücksichtigen muss. Einerseits geht es darum, dass diese ganze Reform ohne die Lehrer und Lehrerinnen und ohne Gewerkschaftsvertreter geplant und verabschiedet wurde. Es wurde also der Sektor, den sie betrifft, nicht einbezogen in die Gestaltung dieser Reform. Das ist ein grundsätzliches Problem, dass man über die Köpfe dieser Leute hinweg bestimmt und neue Gesetze beschlossen hat, ohne mit ihnen den Dialog zu suchen. Andererseits ist die Evaluierung jetzt eine Art Machtprobe zwischen dem Staat und oppositionellen Teilen der Lehrergewerkschaft geworden.
Der eigentliche Inhalt der Evaluation ist noch ein anderes Thema: Es gibt auch Kritik von Personen, die sich evaluieren ließen, dass die 152 Fragen, die man in vier Stunden per Multiple Choice beantworten musste, zu einem guten Teil nichts mit der beruflichen Realität und dem Unterricht zu tun hatten. Unter anderem wurde Lehrern und Lehrerinnen in Mexiko-Stadt die Frage gestellt: »Wenn ein Staudamm bricht, was würden Sie tun?« Das ist eine realitätsfremde Frage für Lehrer, die im städtischen Milieu Unterricht geben. Also letztlich auch ein schlecht durchgeführter Test, zudem beinhalteten die Fragen viele Grammatikfehler. Die Evaluation trägt keineswegs zu einer Verbesserung der pädagogischen Ausbildung bei, weil sie auch zu ungenau ist und an der Realität der Schulklassen vorbeigeht.
In Veracruz, Michoacán, Oaxaca und anderen Bundesstaaten wurde die Evaluation der Lehrer und Lehrerinnen mit Hilfe Tausender Bundespolizisten durchgesetzt. In Chiapas war dies nicht möglich, aber auch dort kam es nach Aussagen von Gewerkschaftern und Medien zu Übergriffen der Polizei auf die Protestierenden. Der mexikanische Bildungsminister, Aurelio Nuño Mayer, hat im Dezember Verhandlungen mit der Gewerkschaft CNTE ausgeschlossen und den Lehrern und Lehrerinnen vorgeworfen, dass sie nur ihre Privilegien verteidigen wollten. Warum sind die Fronten in dieser Auseinandersetzung so verhärtet?
Das ist schon seit längerer Zeit so. Die Reform wurde im Parlament 2012 beschlossen, 2013 wurden dann die eigentlichen Gesetze zur Verfassungsreform verabschiedet. Es ist sehr schwierig für die Regierung, aus dieser politischen Sackgasse herauszukommen. Sie ist auf die Unterstützung von Unternehmen angewiesen und hat auch jahrelang Kampagnen in den Medien gemacht, in denen sie die Lehrkräfte kriminalisiert hat. Es geht letztlich nicht nur um die Lehrerinnen und Lehrer, es geht darum, den Widerstand gegen die wirtschaftsliberale Politik zu brechen. Deshalb gab es auch dieses von Militär und Polizei geschützte Theater, diesen Zirkus um die Evaluation.
Die gravierendste Situation hatten wir in Chiapas Anfang Dezember vergangenen Jahres, wo im Rahmen dieser Proteste ein Lehrer ums Leben gekommen ist. Die wenigen Lehrer, die sich evaluieren ließen, wurden in Militäreinrichtungen in Chiapas untergebracht. Eine sehr gefährliche Situation, in die sich aber die Regierung letztlich selbst manövriert hat. Die Lehrerinnen und Lehrer setzen sich nach wie vor meist friedlich zur Wehr und versuchen, diese Reform scheitern zu lassen.
Wie Sie sagten, kam der Grundschullehrer David Gemayel Ruiz Estudillo ums Leben. Über das, was vorgefallen ist, gibt es von Seiten der Polizei und der Gewerkschaft unterschiedliche Angaben. Gibt es mittlerweile mehr Informationen darüber, was am 8. Dezember 2015 passiert ist?
Nein, es gibt keine weiteren Informationen. Die Überwachungskamera, die die Auseinandersetzung dokumentierte, hat in dem Moment, als der Lehrer überfahren wurde, einen anderen Schauplatz gefilmt. Es gibt Aussagen von Lehrern, die sagen, das Opfer sei von einem Wasserwerfer überfahren worden. Von Seiten der Regierung wird behauptet, die Lehrer hätten einen Bus in Richtung Polizeireihen in Bewegung gesetzt und im Tränengasnebel sei der Bus außer Kontrolle geraten und hätte dann einen Demonstranten überfahren. Es sind beide Varianten möglich, aber es wird schwierig werden, die Wahrheit herauszufinden. Das ist in Mexiko grundsätzlich schwierig. Anfang des vergangenen Jahres wurde in Acapulco bei einem Einsatz gegen eine Lehrerdemonstration ein pensionierter, behinderter Lehrer getötet. Die Lehrergewerkschaft hat gesagt, er sei durch Polizeischläge gestorben, und die Polizei hat behauptet, er sei von einem Auto der Lehrergewerkschaft überfahren worden. Die Aufklärung solcher Todesfälle ist normalerweise sehr lückenhaft.
Der Bundesstaat Chiapas wurde international durch den Aufstand der Zapatistas im Jahr 1994 bekannt. Haben die Zapatistas auch bei den derzeitigen Protesten der Lehrerinnen und Lehrer eine Rolle gespielt?
Die Zapatistas haben meines Wissens keine Rolle in diesen Auseinandersetzungen gespielt und haben sich nicht öffentlich zum Thema Strukturreformen im Bildungsbereich positioniert. Die Zapatistas sind dabei, ihre Autonomiestrukturen weiter auszubauen, und befinden sich nicht in dem Sinne in einer Konfrontation mit dem Staat.
Im vorvergangenen Jahr geriet die amtierende Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto wegen der zahlreichen und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Mexiko, etwa wegen der verschwundenen Studenten von Ayotzinapa, und Korruptionsvorwürfen, vor allem um ein Luxusanwesen seiner Familie, auch international in die Kritik. In Mexiko selbst forderten Tausende Menschen über Monate den Rücktritt der Regierung. Trotzdem ist Peña Nieto immer noch im Amt. Warum?
Spurlos ist das an der Regierung nicht vorübergegangen, sondern sie hat nach der politischen Unsicherheit mit dem Skandal um Ayotzinapa und der Korruption um Peña Nieto die Reihen geschlossen. Im Februar 2015 wurde ganz klar von Unternehmerseite gesagt, dass sie die Regierung stützt, und diese versucht seither, Stärke zu zeigen und hart zu bleiben. Auch und gerade Protestbewegungen, die zu Recht einen Dialog einfordern, wird dieser meistens verweigert und es wird sehr schnell militärisch gedroht. Wir sehen das auch daran, dass Übergriffe auf soziale Bewegungen, auch auf Menschenrechtler, zunehmen, dass auch mehr Aktivisten und Aktivistinnen aus indigenen Gemeinden im Gefängnis sitzen. Und seit Anfang Dezember 2015 sind 52 Studierende der Pädagogik in Michoacán inhaftiert. Es sind Lehrer der oppositionellen Gewerkschaften verhaftet worden und wir sehen eine Politik der harten Hand, die keine Zugeständnisse an die Opposition machen will.
Auch in Oaxaca sind vier Mitglieder der Lehrergewerkschaft verhaftet worden, die seit November im Gefängnis von Altiplano einsitzen, im selben Hochsicherheitsgefängnis, aus dem der Drogenboss »El Chapo« im Juli ausgebrochen ist. Das zeigt auch das Ausmaß der Kriminalisierung der sozialen Bewegungen. Ihnen werden Delikte wie das Blockieren von Autobahnen vorgeworfen, dafür sitzen sie dort ein.
Mexiko wird im Zusammenhang mit den verschwunden Studenten immer wieder als failed state bezeichnet, als ein Staat, in dem mafiöse Strukturen den Staatsapparat verdrängt haben. Andererseits ist es schwer vorstellbar, dass diese Banden ohne die Rückendeckung von zumindest Teilen der mexikanischen Regierung in diesem Ausmaß agieren können. Wie würden Sie Ayotzinapa in diesem Kontext einordnen? Was sagt dieser Vorfall über die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in Mexiko aus?
Ayotzinapa ist der Kristallisationspunkt einer Vermischung oder einer Überdeckung von mafiöser Gewalt und Staatsgewalt. Diese Situation gibt es leider in vielen Teilen von Mexiko, die Mafiastrukturen können letztlich Dank des Schutzes der staatlichen Behörden ihre Tätigkeiten ausbauen. Weiter sehen wir auch nach drei Jahren, der Hälfte der Amtszeit des Präsidenten Peña Nieto, keine Verbesserung der Situation. Im Gegenteil. Es gibt Regionen wie Guerrero, wo die Gewalt in den vergangenen Jahren noch zugenommen hat, trotz aller Versprechungen der Regierung, dort für eine Verbesserung der Situation zu sorgen. Mitte Dezember haben wir die Meldung von 17 verschwundenen armen Bauern in einer abgelegenen Gegend von Guerrero erhalten. Und solche grausamen Meldungen gibt es leider täglich oder wöchentlich.
Welche Chancen und Perspektiven sehen Sie für die sozialen Bewegungen in Mexiko?
Es gibt viele Ansätze, viele Proteste, viel Basisarbeit, die auch Resultate zeigen und vorankommen. Es gibt Vernetzungen, die auch erfolgreich sind im Widerstand gegen Großprojekte, zum Beispiel gegen Staudamm- oder Bergbauprojekte, die zuweilen unter Verletzung der indigenen Rechte umgesetzt werden sollen. Und es gibt Gegenmodelle, die gelebt werden, wie zum Beispiel bei den Zapatistas oder auch in anderen Regionen. Es ist nicht alles verloren, aber die politische Lage ist schon sehr schwierig, sehr beunruhigend. Deshalb ist es sehr wichtig, dass dies auch in Europa Thema wird und dass man mit Mexiko nicht einfach business as usual betreiben darf, weil diese massiven Menschenrechtsverletzungen Alltag sind und weil auch das Ausland auf eine Änderung der Politik drängen muss.