Berlin Beatet Bestes. Folge 321. Lemmy.

Ein Gebräu aus Drogen und Leder

Berlin Beatet Bestes. Folge 321. Lemmy.

Lemmy ist tot und schon eine Stunde später bin ich auf einer Beerdigung. Nicht der von Lemmy, natürlich, sondern der von Tante Lieschen, denn Lemmy kannte ich ja gar nicht. Tante Lieschen schon. Sie wurde 94 Jahre alt. Der Pfarrer beschrieb noch einmal ihren ereignisreichen Lebensweg, wie sie den Zweiten Weltkrieg erlebte, emigrieren musste, zurückkehrte nach Deutschland, heiratete, Mutter wurde und Erfolg in ihrem Beruf hatte. Auf dem Friedhof war es wie immer kalt. Später gingen wir gemeinsam essen. Jeder mochte Tante Lieschen. Ihr langes erfolgreiches Leben versöhnte die Trauernden mit ihrem Tod.
Lemmys Tod wird seine Fans sicher schwerer erschüttert haben, denn er hinterlässt eine Lücke. Lemmy stand für das Pure. Wenn du selbst geschwächelt hast, angeschlagen von den Kompromissen, die das Erwachsenenleben dir abforderte – der Ehefrau, den Kindern, dem Beruf, den Ratenzahlungen für die Hypothek –, konntest du dich an Lemmys reiner Rock ’n’ Roll-Essenz wiederaufrichten. Denn Lemmy interessierte sich nicht für Geld und Erfolg. Er zog einfach sein Ding durch. Einen wie ihn gibt es im Rock ’n’ Roll kein zweites Mal, Lemmy hatte sich selbst erfunden. Motörhead fielen schon bei ihrer Gründung 1977 aus der Zeit.
Idiotischerweise wird Motörhead immer als traditionalistischer Rock abgetan, den die Band nie gemacht hat. Wer sich hingegen mal das Line-up eines der großen europäischen Punk-Festivals ansieht, die jeden Sommer stattfinden, wird dort die Namen vieler Bands entdecken, die sich ebenfalls vor 30 oder 40 Jahren gegründet haben. Diese Punk-Bands sind im Vergleich zu Motörhead tatsächlich Traditionalisten. Sie machen Punk für Punks und glorifizieren in einer fortwährenden Schleife die siebziger und achtziger Jahre.
Motörhead hingegen erfanden ihr eigenes Genre, dem sie dann treu blieben, wie es ansonsten nur Traditionalisten tun. Lemmys erwachsener Blick auf den Rock ’n’ Roll, er war immerhin schon 30, als er Motörhead gründete, verband alle Bad-Boy-Klischees, mit denen er aufgewachsen war: Drogen, Leder und eiserne Kreuze. Er filterte seine ganz eigene Rock ’n’ Roll-Essenz heraus, jenseits der sehr reglementierten englischen Subkultur-Stile von Rocka­billy, Heavy Metal oder Punk. Diese Mischung ergab dann Schnittmengen mit vielen anderen Subkulturen. Fortan versammelten Motörhead in jeder Stadt, in der sie spielten, den lokalen, randständigen Rock ’n’ Roll-Abschaum: Skinheads, Hells Angels, Hooligans – nie habe ich irgendwo schlimmeren scum auf einem Haufen gesehen.
Etwas gemeinsam haben Tante Lieschen und Lemmy aber schon. Auch die um Lemmy Trauernden werden sich Geschichten über den Verstorbenen erzählen. Sie werden dazu Motörhead hören, Whiskey trinken und vielleicht in Gedenken an ihn ein paar Lines Speed ziehen. Der Pfarrer wird über Lemmys langen ereignisreichen Lebensweg sprechen. Vielleicht erwähnt er sogar die rockenden Pfarrer, die Rocking Vickers, Lemmys erste Beat-Band aus den Sechzigern.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.