Der IS weist Merkmale eines Rackets auf

Im permanenten Ausnahmezustand

Der Erfolg krimineller Praktiken und Banden ist abhängig von deren Organisation und der Loyalität ihrer Mitglieder. Unterordnung, Ergebenheit und Strafe sind zentrale Momente der Rackets, wie Horkheimer sie bezeichnet. Der »sogenannte Islamische Staat« (IS) weist mit seiner Art der Ausbeutung ähnliche Merkmale auf.

Jeden Tag Bombenanschläge und Entführungen – Ende 2005, mehr als zwei Jahre nach dem Einmarsch der »Koalition der Willigen«, war die Situation im Irak desaströs. Von Journalisten der Welt mit der bangen Frage konfrontiert, ob denn nun mit einem permanenten Krieg zu rechnen sei, gab der irakische Intellektuelle Kanan Makiya die verblüffende Antwort, dass »der Krieg, der 2003 hätte stattfinden müssen, eigentlich nicht stattgefunden hat. Saddams Armee ist nicht besiegt worden, sie hat sich nur in Luft aufgelöst. (…) Sie müssen sich das so vorstellen, als hätten die Amerikaner nach 1945 die Waffen-SS und die Gestapo unbehelligt gelassen. Man hat kaum jemanden verhaftet, man hat eine Art Appeasement versucht.« Das von Makiya beschriebene Appeasement hat sich bitter gerächt. Denn jene, die sich vermeintlich »in Luft aufgelöst« hatten, sind später scharenweise beim »Islamischen Staat« (IS) wieder aufgetaucht. Im Sommer 2010 haben verschiedenen Beobachtern zufolge einstige Kader des Saddam-Regimes, alles ehemalige Geheimdienstler und Militärs, das Ruder übernommen und den IS in seine jetzige Form gebracht.
Wie der Autor Christoph Reuter in seinem Buch »Die schwarze Macht« schildert, ging der IS in dieser Restrukturierungsphase in vielerlei Hinsicht wie ein kriminelles Netzwerk vor, das »im Irak Schutzgelder erpresste, Zahlungsunwillige ermordete oder deren Geschäfte sprengte« und auf diese Weise Millionen einnahm. Die erpresserische Ausbeutung anderer ist auch heute noch ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung des IS und seines Machtanspruches. Deswegen wird die Organisation in US-Medien gerne auch als extortion racket oder als protection racket bezeichnet. Dass scheinbar so gegensätzliche Tätigkeiten wie Erpressung und Schutz gleichermaßen als Attribute für sogenannte Rackets dienen, hat Tradition und liefert zugleich eine Annäherung an das Phänomen.

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es in den US-Medien erstmals populär geworden, bestimmte kriminelle Praktiken und Banden als Rackets zu bezeichnen. Max Horkheimer verfolgte diese Entwicklung im Exil in den USA genau, ohne sie jedoch als Randphänomen der bürgerlichen Gesellschaft abzutun. Der Staat des Liberalismus stand ihm zufolge wenigstens kurzzeitig der Durchsetzung bloß partikularer Interessen entgegen. Die nachliberale Gesellschaft büßte diesen Schein der Allgemeinheit zunehmend ein und damit auch die Voraussetzungen dafür, dass die rule of law gelten kann. Das Racket wurde Horkheimer zum Begriff hierfür: Es biete Schutz nur im Gegenzug für rückhaltlose Loyalität. Diese werde mittels der »Brechung der Persönlichkeit« seiner Mitglieder garantiert und durch einen radikalen »Gegensatz zwischen innen und außen« strukturiert, der verdeutliche, dass jeder, der nicht dazugehört, verloren sei: »Das Racket kennt kein Erbarmen mit dem Leben außer ihm, einzig das Gesetz der Selbsterhaltung.«

Auch im IS sind Loyalität und Unterordnung zentral. Wer beides vermissen lässt, wird dank des von ehemaligen irakischen Ba’ath-Kadern engmaschig organisierten Geheimdienstapparats identifiziert und eines Besseren belehrt. Was mit denen geschieht, die sich dem »rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag« (Horkheimer) des sich kontinuierlich ausdehnenden Großrackets nicht bedingungslos unterwerfen, hat der IS mit den Massakern an zwei stammesförmig organisierten sunnitischen Gruppen im August 2014 im syrischen Deir ez-Zor und im November 2014 in der irakischen Anbar-Provinz demonstriert. Möglicherweise weit über 1 000 Menschen wurden zur Warnung an alle Widerspenstigen gnadenlos niedergemacht.
»Kontrollmaßnahmen« zur Schaffung einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens sind für das IS-Racket ein wichtiges Herrschaftsinstrument. Eine zentrale Rolle spielten dabei auch in Syrien die zunächst nicht offen im Namen des IS agierenden Daawa-Wohlfahrtsbüros, die im Zuge des syrischen Staatszerfalls vielerorts errichtet wurden. Mit ihrer Hilfe wurde das Geheimdienstnetz vorbereitet und ausgebaut. Unter dem Deckmantel der islamischen Missionierung wurden möglichst kompromittierende Informationen über die Einwohner der jeweiligen Kommunen gesammelt, um sie nötigenfalls als Druckmittel nutzen zu können.
Die IS-Geheimdienste sind so strukturiert, dass sie ihrerseits kleinere Rackets bilden, die parallel und gegeneinander arbeiten und nur der obersten Führungsriege verpflichtet sind. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass sich Emporkömmlinge heimlich eine autonome Machtbasis verschaffen. Es existiert ein Klima von Nervosität und Konkurrenz, das eine allseitige Überwachung garantiert. Wie heimkehrende Jihadisten einer am King’s College in London ansässigen Studiengruppe berichteten, sei es beispielsweise äußerst schwierig, das IS-Territorium ohne offizielle Erlaubnis wieder zu verlassen. Zahlreiche ausländischer Kämpfer, die es dennoch versuchten, wurden bereits als »Apostaten« des Islam hingerichtet.
Der IS verfolgt eine Politik der Eskalation. Im Innern muss diese als bloße Simulation und Surrogat jenes permanenten Ausnahmezustands begriffen werden, durch den im Nationalsozialismus die Integration der konkurrierenden Rackets zur Schaffung eines faktischen Gewaltmonopols gelang. Auch die Feindbestimmung im Inneren des IS folgt dem Eskalationsprinzip. So werden ständig neue Personengruppen innerhalb des IS-Territoriums zu Ungläubigen erklärt und als Angriffsziele definiert. Diese Willkür ist ebenfalls ein Indiz, dass der Islamische Staat bislang daran scheiterte, die politische »Einheit« und »Befriedung« auf eine Weise herzustellen, wie es etwa im Nationalsozialismus durch die Bestimmung der Juden zum »totalen Feind« gelang. Die Erklärung zum Ungläubigen, die Praxis des takfir, ermöglicht eine permanente Eskalation im Inneren und soll darüber hinwegtäuschen, dass im IS niemand gleichermaßen über die absolute Autorität eines religiösen Führers verfügt wie etwa in der Islamischen Republik Iran. Damit fehlt auch die »besondere politische Qualität in der Ausprägung des total gewordenen Racketprinzips« (Gerhard Scheit), die darin besteht, die Rivalität der einzelnen Racket-Fraktionen zu kanalisieren.

Nach außen ist der territorial-expansive Charakter des IS nicht lediglich ein Erfordernis der Beuteökonomie. Er steht für das keinesfalls bloß propagandistische Versprechen, das euphemistisch als islamistischer Terror apostrophierte Streben nach Vernichtung um ihrer selbst willen, Kern aller modernen Zivilisationsfeindschaft, die im Judenmord kulminiert, schließlich doch noch zum totalen Krieg ausweiten zu können. Hinsichtlich dessen hat Gerhard Scheit in seinem Buch »Suicide Attack« die Spezifik der islamistischen Rackets herausgearbeitet. Staaten wie Saddams Irak scheiterten daran, »die Vernichtung als Gewaltmonopol auch nach außen zu tragen und den totalen Krieg nicht nur anzukündigen, sondern auch zu Ende zu führen«. An deren Stelle, so Scheit 2004, treten islamistische Rackets in Aktion. Die Aussicht, dass der totale Krieg auf der Grundlage des territorial verfassten Kalifats entfesselt werden könnte, treibt dem IS Anhänger aus aller Welt in die Arme. Es ist daher irrelevant, ob bestimmte Attentäter autonom agieren oder dem IS tatsächlich organisatorisch verbunden sind – entscheidend ist, dass sie sich alle tatkräftig auf dasselbe Vernichtungsprojekt beziehen.

Ein Irrtum wäre die Annahme, es handle sich bei den IS-Leuten aus Saddams Rängen um »glaubensfreie Ingenieure der Macht«, wie etwa Christoph Reuter meint. Bereits Anfang der achtziger Jahre nämlich, so Kyle Orton auf dem Blog »BaghdadInvest«, hatte Saddam Hussein als Reaktion auf die iranische Revolution ein umfassendes Projekt zur Verschmelzung von Ba’athismus und Salafismus begonnen. Zu den bösen Früchten dessen zählten die Mannschaften der Hussein direkt unterstellten paramilitärischen Aufstandsbekämpfungstruppe »Fedayin Saddam«, heute ebenfalls wiederzufinden im IS. Sie bilden eine Einheit mit kampferprobten Jihadisten und den jungen Männern aus Nordafrika und Europa, die die sadomasochistischen Machtgelüste ihres autoritären Charakters im Herrschaftsbereich des IS mit Vorliebe als Sittenpolizisten verwirklichen oder sich als Selbstmordattentäter betätigen.
Gleichwohl ist es fraglich, ob es dem IS tatsächlich gelingen kann, die verschiedenen Fraktionen und Kräfte im Innern dauerhaft so zu integrieren, dass er im Sinne von Horkheimers Racket-Theorie so mächtig wird, dass er seinen »Willen auf einem geographischen Gebiet als dauernde Regel des Verhaltens für alle Bewohner aufrechterhalten kann«. Nur dann wäre es ihm möglich, als ein »Staats-Racket« (Friedrich Pollock) zu firmieren und das faktische Gewaltmonopol für ein Vernichtungsprojekt zu mobilisieren, wie dies der Islamischen Republik Iran erschreckend erfolgreich gelingt. Vorläufig scheint es eher so zu sein, dass die Simulation des permanenten Ausnahmezustands, die Politik der dauernden Eskalation, der den Rackets eigentümlichen prekären, stabil-instabilen Form der Herrschaft entspricht. Diese muss, wie der an Horkheimers Racket-Überlegungen beteiligte Otto Kirchheimer schrieb, als »Symbol für das Fehlen eines«, sei es auch nur rudimentären »Systems vernünftiger Koordination« im Sinne einer rationalen Irrationalität begriffen werden, wie sie souveränen Staats-Rackets vom Schlage des Iran eigen ist. Auch in diesem Sinne ist der sogenannte Islamische Staat also vorläufig kein Staat.
Entsprechend verhält sich das dem IS eigene Vernichtungspotential, allem Verderben, das er entfesselt, zum Trotz, verglichen mit jenem der Islamischen Republik Iran wie eine bloße »Dirty Bomb« zu einem echten Nuklearsprengkopf.