Der Machtkampf in Libyen

Frieden für einen neuen Krieg

Noch in diesem Monat soll in Libyen eine Einheitsregierung gebildet werden. Ob sie gegen den Widerstand der Jihadisten regieren kann, wird nicht zuletzt von den ausländischen Verbündeten der Milizen abhängen.

Die Katastrophe kam wie immer in letzter Zeit wie aus dem Nichts. Mitten im Feierabendverkehr Bengasis kündigte nur ein leises Surren, kaum länger als zwei Sekunden, Tod und Verwüstung an. Normaler Alltag und Krieg liegen in Libyens zweitgrößter Stadt schon seit Beginn des Aufstands gegen Muammar al-Gaddafi 2011 dicht beieinander. Doch seit die Shura-Koalition, in der sich libysche Islamisten und ausländische Jihadisten unter den Flaggen des »Islamischen Staats« (IS) und von Ansar al-Sharia zusammengeschlossen haben, die Stadt angreift, scheinen die Unterschiede vollends zu verschwimmen.
Auf belebter Straße traf es am vergangenen Montag eine Familie vor dem libysch-deutschen Krankenhaus im Bezirk Leithi mitten im Feierabendstau. Ihr VW Golf wurde von einer Mörsergranate der Jihadisten zerfetzt, das Leben ging auf den Märkten und in den Cafés einen Steinwurf entfernt wie unter Schock weiter. Zwei Tote und fünf Verletzte, heißt es später in einer kurzen Meldung der libyschen Nachrichtenagentur Lana. Auch das große Kraftwerk bei Bengasi, mehr als vier Kilometer von der Front entfernt, erlitt am Wochenende einen Volltreffer. Seitdem brummen in der gesamten Region die Dieselmotoren der Stromgeneratoren. Doch anders als vor fünf Jahren finden solche Meldungen selbst in Libyen kaum noch Beachtung.

In Bengasi hatte alles begonnen, als im Februar 2011 ein Dutzend Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Protest gegen die Inhaftierung des Rechtsanwalts Fathi Terbil den Aufstand in Libyen auslösten. Die Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang schien sich durch zwei gut organisierte Parlaments- und über 90 Gemeindewahlen zu erfüllen. »Doch schon mit der Befreiung von Tripolis Ende 2011 spürte ich, dass die Werte der Revolution im Kampf um Posten und Macht verloren gehen«, sagt Tafwik Mansoury, ein Englischlehrer aus Bengasi. »Vielleicht sind wir auch aus ganz unterschiedlichen Gründen auf die Straße gegangen.« Hoffnung, dass mit der geplanten Einheitsregierung der seit nunmehr einem Jahr tobende Bürgerkrieg enden könnte, hat er nicht. »Weil der Westen bisher immer die angeblich moderaten Islamisten unterstützt hat, die sich in Tripolis durchgesetzt haben. Dass diese die Extremisten in Bengasi unterstützen, vergisst man in Brüssel und Berlin«, kritisiert er die europäische Politik, die auch Islamisten in ein Bündnis gegen den IS einbeziehen will.
In Libyen konkurrieren zwei Regierungen um die Macht. In der Hauptstadt Tripolis bildeten Islamisten, darunter auch Muslimbrüder, ihre eigene Regierung; nach Tobruk in Ostlibyen war die gewählte Regierung geflohen, die auch international anerkannt wurde. Unterstützt wird letztere von Milizen unter General Khalifa al-Haftar. Mitte Dezember einigten sich die beiden Regierungen unter Vermittlung der UN auf einen sofortigen Waffenstillstand und die baldige Rückkehr der gewählten Regierung nach Tripolis. Doch Anschläge des IS und eine Offensive des Shura-Rates in Bengasi torpedieren jede Hoffnung auf staatliche Ordnung.
Im Osten des sechs Millionen Einwohner zählenden Landes fühlte man sich schon immer von der Macht ausgeschlossen. Dieses Problem und die seit dem vergangenen Sommer andauernde Kampagne der Jihadisten, die schon 2013 über 500 Soldaten und Polizisten aus dem Hinterhalt ermordeten, führten zur Suche nach einem starken Mann, der einen zweiten Aufstand organisieren könnte. »Niemand mag General Haftar wirklich, aber er war es eben, der die Nachbarschaftsbrigaden und Stämme im Osten vereint hat«, so Mansoury, der so bald wie möglich seine Sprachschule wieder eröffnen will. Er hofft wie viele in Libyen auf das Verschwinden von Tausenden Söldnern, die gut bezahlt werden und über die Nachbarländer nach Libyen kommen.

Schon bald könnte die Einheitsregierung um internationale Militärhilfe bitten. Der von den Vereinten Nationen unterstützte Ministerpräsident Faiyez al-Sarraj aus dem 1 000 Kilometer entfernten Tripolis hat die Angriffe auf Bengasi immerhin zu Terrorakten erklärt. Bei seinem ersten Staatsbesuch in der Türkei wurde er vom türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu empfangen, der vielleicht größte Erfolg der vom UN-Sondergesandten, dem deutschen Diplomaten Martin Kobler, ausgehandelten Einheitsregierung. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Waffen aus der Türkei über den Hafen von Misrata in die Hände der extremistischen Milizen gelangen. Haftars Armee in Bengasi wird dagegen von Ägypten ausgerüstet.
Ob die Ende vorigen Jahres vereinbarte Ernennung einer Einheitsregierung unter Sarraj Libyen ein vorläufiges Ende des Machtkampfes bringen wird, hängt hauptsächlich von den ausländischen Verbündeten der libyschen Milizen ab. Die Türkei und Katar halten zu den Muslimbrüdern, Ägypten und die Arabischen Emirate zur Armee von Haftar.
Während in den Hinterzimmern verschiedener Hotels in Tunis um die Ministerposten gerungen wird – nach den Vereinbarungen des Friedensabkommens soll bis zum 17. Januar ein Kabinett zusammengestellt werden –, rüsten die Machthaber in Tripolis gegen die »von den Vereinten Nationen diktierte Friedenslösung«, so Nouri Abus­ahmain, der Präsident der nicht anerkannten islamistischen Regierung in Tripolis. Er rief am Wochenende die Generalmobilmachung aus und setzt weiterhin darauf, mit dem Präsidenten des verfeindeten Parlaments im ostlibyschen Tobruk eine rein libysche Kompromisslösung zu finden.
Da sich der UN-Sicherheitsrat und die Nachbarländer bereits auf die Seite der Regierung von al-Sarraj geschlagen haben, versuchen Abu­sahmain und die mit ihm verbündeten Islamisten nun ihren einzigen Trumpf auszuspielen: Sie besetzen neuralgische Punkte in der Hauptstadt und schwören Jihadisten gegen Sarraj ein, die in Bengasi, Sabrata und anderen Orten stationiert und bereit sind, notfalls mit Waffengewalt eine »internationale Intervention« zu verhindern.
Obwohl das Lager um Abusahmain wenig Rückhalt in der Bevölkerung und die »internationale Gemeinschaft« gegen sich hat, könnte sich das Blatt dennoch zu seinen Gunsten wenden. Bei einem Besuch Martin Koblers in Tripolis wurde er mit seinem Sicherheitsberater, einem italienischen General, nur an einen Nebentisch platziert. Abusahmain heimste mit einer öffentlichen Drohung an »unseren italienischen Gast«, den er vor einer zweiten kolonialen Militärinvasion warnte, viel Zustimmung in Tripolis ein.
Wie gering die Chancen für die Regierung Sarrajs stehen, ihre Arbeit in Tripolis aufzunehmen, zeigte auch dessen erster offizieller Besuch. Geschützt von Milizen aus der Handelsstadt Misrata nahm er an der Trauerfeier für die 50 Opfer einer Autobombe teil, die ein tunesischer IS-Anhänger in Zliten am Wochenende gezündet hatte. Bei der Rückkehr zum Flughafen von Misrata wurde der Konvoi Sarrajs am Kontrollpunkt Daphnia von wütenden Milizionären und Bürgern angehalten.
Dass der aus Tripolis stammende Sarraj den in Bengasi gegen Jihadisten kämpfenden General Haftar nicht kategorisch ablehnt, kostet ihn in Westlibyen viel Symphatie. »Die Lokalräte und Milizen schauen zur Zeit genau hin, welche der beiden Seiten stärker ist«, sagte Mustafa Abu Shagur, der 2012 für einige Wochen Ministerpräsident Libyens war, am Montag voriger Woche.

Doch selbst wenn sich die Lösung der UN durchsetzen sollte, würde dies keinen Frieden, sondern den Anfang eines Kriegs gegen den »Islamischen Staat« bedeuten, der sich in dem Machtvakuum im vergangenen Jahr an mehreren Orten ausbreiten konnte. Damit greif eine Miliz nach der Macht, die ideologisch motiviert ist und eine Langzeitstrategie verfolgt. Nach der Autobombe auf die Polizeiakademie von Zliten und dem Angriff auf Libyens größte Öllager und Häfen bei al-Sidr und Ras Lanuf entging auch Sarraj offenbar nur knapp einem Anschlag des IS. Nahe dem Flughafen von Misrata, von wo Sarraj in sein tunesisches Exil fliegen wollte, stoppten Sicherheitskräfte einen mit Sprengstoff beladenen Krankenwagen.
Libysche Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass der IS Sirte in Kürze zum Hauptquartier eines geplanten afrikanischen Kalifats ausrufen wird. Von Gaddafis Heimatstadt aus sind die wichtigsten Schifffahrtsrouten über das Mittelmeer mit einem Schlauchboot in wenigen Stunden zu erreichen. Die Hauptstädte Tunesiens und Libyens sind bereits im Visier der IS-Strategen. Eine Autobombe explodierte am Wochenende auf dem Märtyrerplatz in Tripolis, dieser Anschlag und das Attentat auf die tunesische Präsidialgarde vom November waren offenbar in einem Trainingslager des IS in Sabratha vorbereitet worden. Da der IS über die Flüchtlingsrouten durch die Sahara immer mehr Kämpfer nach Sirte schleust, könnte das Scheitern der Diplomatie bald zu einem erneuten internationalen Militäreinsatz führen. Inoffziell hat dieser bereits begonnen. Nach den Drohneneinsätzen über Sirte und Sabratha bombardierten nicht identifizierte Kampfflugzeuge in der Nacht zum Montag Gebäude am Stadtrand von Sirte.
Tafwik Mansoury hat von den Angriffen gehört. »Hätte man Libyen nicht nach 2012 den bewaffneten Gruppen überlassen, wäre ein zweiter Militäreinsatz nicht nötig geworden. Gerade bei den Islamisten kämpfen viele perspektivlose junge Männer, die ohne Waffe vor dem Nichts stehen. Nur mit Bomben kann man Libyen nicht mehr retten«, meint der Englischlehrer.