Das Versagen der Kölner Polizei

Rechtsfreie Zone NRW

Die sexuellen Angriffe auf Frauen in der Silvesternacht in Köln waren in dieser Dimension ein bislang einzigartiger Ausbruch der Gewalt. Das Versagen der Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen war ein weiteres Kapitel der im Land vorherrschenden organisierten Verantwortungslosigkeit.

Als der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Montag den Fraktionssaal der SPD im Düsseldorfer Landtag betrat, wirkte er angespannt. Nach den Angriffen auf Frauen in der Silvesternacht hatte die CDU eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt. Jäger, dessen Selbstbewusstsein für gewöhnlich in keinem Verhältnis zu seinen Erfolgen steht, wusste, dass dieser Montag nicht einfach werden würde. Doch er blieb sich selbst treu. So hart er den Einsatz der Kölner Polizei auch kritisierte – deren Präsidenten Wolfang Albers hatte Jäger bereits am Freitag in den vorläufigen Ruhestand versetzt –, so klar wurde in seiner langen Rede doch eines: Jäger war sich wieder einmal keiner Verantwortung bewusst. Seine empörten Auslassungen über das Versagen seiner Beamten klangen wie die Kritik eines Außenstehenden über die Verfehlungen einer ihm gänzlicher fremden Organisation. Selbstkritisches war von Jäger nicht zu hören, sowohl er als auch sein Haus seien ohne jeden Fehler: »Das Ministerium führt nicht das operative Geschäft. Die Gesundheitsministerin trägt ja auch keine Verantwortung für eine misslungene Blinddarmoperation.«
Eine erstaunliche Haltung angesichts dessen, was in der Silvesternacht in Köln geschah und dem Ausschuss in Berichten der Kölner Polizei sowie des Innenministeriums dargelegt wurde: 553 Strafanzeigen, fast die Hälfte davon wegen Sexualdelikten, waren bis Montagnachmittag bei der Polizei eingegangen. Aus dem Bericht des Innenministeriums geht hervor, dass 14 der bisher ermittelten 19 Tatverdächtigen aus Marokko und Algerien stammen, vier befinden sich wegen der Vorgänge in der Silvesternacht in Untersuchungshaft. Keiner der Verdächtigen hat dem Bericht zufolge einen verzeichneten Wohnsitz in Köln.
Kriminalbeamte hätten am 31. Dezember zwar gegen Mitternacht die ersten Anzeigen wegen Sexualdelikten aufgenommen, aber keine Notwendigkeit gesehen, Ermittlungen einzuleiten. Innerhalb der Kölner Polizei gab es keinen Überblick über die Geschehnisse rund um den Bahnhof. Eine Pressemitteilung vom frühen Morgen des 1. Januar beschrieb die Silvesternacht in Köln mit launigen Worten: »ausgelassene Stimmung«, »Feiern weitgehend friedlich«. Dem Bericht des Innenministeriums zufolge hatten Frauen, die in der Nacht eine Strafanzeige aufgeben wollten, dazu keine Gelegenheit: In der Innenstadtwache stand für 50 Frauen nur eine Polizeibeamtin zur Verfügung, um Anzeigen aufzunehmen. Bei mindestens 30 Minuten für die Aufnahme eine Strafanzeige hätten sich Wartezeiten von mehr als einem Tag ergeben, so dass viele Frauen die Wache unverrichteter Dinge wieder verließen.
Zudem schätzte die Einsatzleitung bei einer Begehung des Bahnhofvorplatzes gegen 21 Uhr die Lage falsch ein. Obwohl schon zu diesem Zeitpunkt Hunderte betrunkene Männer auf dem Platz versammelt waren und sich gegenseitig mit Feuerwerkskörpern bewarfen, wurde keine Verstärkung herbeigerufen. Ein entsprechendes Angebot des Landesamtes für zentrale Polizeidienste wurde sogar abgelehnt. Stunden später hätten diese Beamten vielleicht die Exzesse am Bahnhof unterbinden können. Nach Informationen der Jungle World war die Situation auf dem Vorplatz bereits ab 20 Uhr außer Kontrolle. Der Silvestereinsatz der Polizei begann um 22 Uhr und damit viel zu spät. Auch als die Situation bereits zu eskalieren begann, hielt man an einem planmäßigen Schichtwechsel fest.

Doch die Versäumnisse gingen noch weiter. Bundes- und Landespolizei planten in Köln ihre Einsätze getrennt voneinander und hatten an Silvester zwei verschiedenen Aufbauorganisationen zu ihrer Koordination. Man sprach zwar miteinander, aber die Einsätze wurden getrennt geführt. Auch sonst ist das Verhältnis zwischen Landes- und Bundespolizei offenbar von Missverständnissen geprägt. Bernd Heinen, der Inspekteur der Polizei in Nordrhein-Westfalen, gab vor dem Ausschuss an, die für den Bahnhof zuständige Bundespolizei habe eine Hundertschaft im Einsatz gehabt. Die Bundespolizei gibt sich bescheidener: Neben den üblichen Bahnhofsbeamten seien nur 50 Bundespolizisten zu dem Einsatz hinzugezogen worden. Und auch darüber, wer für was verantwortlich ist, gibt es verschiedene Meinungen: Das Landesinnenministerium glaubt, seine Polizei sei für den gesamten Vorplatz zuständig, die Bundespolizei teilt auf Nachfrage mit, sie sei bis zu den die Mitte des Bahnhofsvorplatzes teilenden Laternen in der Pflicht.
Jäger will all dies untersuchen und aufklären. Eine löbliche Absicht, die er immer wieder äußert, wenn in Nordrhein-Westfalen die Polizei versagt: Nach der Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg 2010, die Jäger, der auch Vorsitzende der Duisburger SPD ist, teilweise live in der Einsatzzentrale der Polizei erlebte, sah er die Fehler beim Veranstalter und der Polizei und nicht in seinem Haus. Jäger war 2010 erst wenige Tage im Amt, aber die von ihm eingeräumten Kommunikationsprobleme gab es dann auch in Köln bei den Hogesa-Ausschreitungen 2014 und zuletzt an Silvester. In nun über fünf Jahren im Amt ist es ihm nicht gelungen, bei seiner Polizei diesen Mangel zu beheben.
Geplagt von Haushaltsproblemen experimentierte Jäger 2014 damit, die Kosten für Polizeieinsätze bei Fußballspielen und Demonstrationen zu drücken. Es wurden kaum noch Beamte aus anderen Bundesländern angefordert, deren Einsatz teuer ist: Neben den Bezügen müssen Unterkunft, Fahrtkosten und Verpflegung übernommen werden. Jäger bestritt, dass an den Personalkosten gespart werde: »Der Einsatzleiter sagt, wie viele Beamte er benötigt, und die bekommt er auch«, sagte Jäger auf einer Pressekonferenz nach den Hogesa-Krawallen. Damals standen 1 300 Polizeibeamten 5 000 Hooligans gegenüber. 49 verletzte Polizisten und stundenlange Krawalle von Nazis und Fußballschlägern waren die Bilanz des Einsatzes.
Jägers damalige Aussage war mehr PR als Wirklichkeit. Als die Kölner Polizei vor dem Silvestereinsatz um die Zuweisung einer weiteren Hundertschaft mit drei Zügen zu je 38 Beamten bat, lehnte das Landesamt für zentrale Polizeidienste die Anforderung ab. Nach Absprache mit der Kölner Polizei, so bestätigte das Landesamt einen Bericht der FAZ, seien nur zwei zusätzliche Züge nach Köln entsandt worden.
Als im Sommer 2014 ein antisemitischer Mob nach einer Demonstration der Linkspartei in Essen eine israelsolidarische Demonstration angriff, waren ebenfalls nicht genug Beamte an Ort und Stelle, um die Ausschreitungen zu verhindern. Bis auf fünf Meter kam der Mob an die kleine Demonstration vor dem Kaufhof gegenüber dem Essener Hauptbahnhof heran.

Auch Koordinationsprobleme zwischen Landes- und Bundespolizei sind nicht so selten, wie Jäger es am Montag im Innenausschuss darstellte, als er die gute Zusammenarbeit der beiden Polizeien lobte. Am 1. Mai 2015 gab es vor einer Demonstration der Neonazi-Partei »Die Rechte« im Ruhrgebiet ebenfalls verschiedene Aufbauorganisationen. Die Bundespolizei hatte, wie in Köln an Silvester, viel zu wenige Beamte an Ort und Stelle. Journalisten wurden schon in Dortmund bedroht und weigerten sich, Anzeigen gegen Rechtsextreme zu erstatten. Später in Essen verhinderte eine in letzter Minute herbeigeeilte Hundertschaft der Landespolizei schwere Ausschreitungen am Hauptbahnhof, als ein Zug mit 100 Neonazis in den Bahnhof einfuhr und fast von gerade einmal zehn Bundespolizisten und einem sichtlich betagten Polizeihund empfangen worden wären.
Auch dass Beamte, wie in Köln geschehen, nach mehreren Anzeigen sexueller Angriffe auf Frauen am selben Ort keinen Anlass sehen, sofort tätig zu werden, und sie mit der Lässigkeit behandeln, die bei Fahrraddiebstählen üblich ist, geht auf Jägers Konto. Er hat es versäumt, im Polizeiapparat ein Problembewusstsein zu etablieren, das solche Straftaten ernst nimmt. Ein Versäumnis, das niemand auf der Sondersitzung des Innenausschusses niemand ansprach.
Nach Gewaltexzessen wie bei Hogesa in Köln 2014 und den antisemitischen Krawallen in Essen im selben Jahr versprach Jäger die Ermittlung von Tätern durch Videoaufnahmen der Polizei, was in beiden Fällen nur selten gelang. Immerhin hier hat Jäger hinzugelernt. Am Montag machte er im Innenausschuss klar, dass mit erfolgreichen Ermittlungen im Falle der Silvester-Ausschreitungen in Köln kaum zu rechnen sei: »Der Rechtsstaat braucht in solchen Fällen Zeit. Wie viele Täter letztlich ermittelt werden können, wie viele Verurteilungen es geben wird, wird sich zeigen. Hier falsche Hoffnungen zu wecken, wäre unredlich – gerade gegenüber den Frauen, die Opfer dieser entfesselten Männerbanden wurden.«
Immer wenn es in der Innenpolitik ernst wird, bewegt sich Jäger auf dünnem Eis. Ob die hohe Zahl der Wohnungseinbrüche, Nazi-Krawalle oder antisemitische Ausschreitungen, peinlich müht sich Jäger darum, nicht verantwortlich zu sein.
Sein Renommierstück liegt denn auch eher im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit als in der Kriminalitätsbekämpfung. Mit der Einführung des »Blitzermarathons« im Februar 2012 versuchte sich Jäger als roter Sheriff neu zu erfinden. Bis dahin übte er sein Amt eher unauffällig aus. Damals wurden 456 000 Autofahrer innerhalb von 24 Stunden kontrolliert, von denen 17 169 zu schnell fuhren. Die Aktion kam an und wurde von anderen Innenministern übernommen. Seit dem vergangenen Jahr ist erst einmal Schluss mit der Blitzerei, die zwar für viele Schlagzeilen sorgt, aber auch viel Personal bindet: Die Beamten werden wegen der vielen Flüchtlinge an anderer Stelle benötigt. Für die Sicherheit im Lande kein großer Verlust, glaubt man dem Verkehrswissenschaftler Michael Schreckenberg. Der sagte dem WDR, der »Blitzermarathon« sei sinnlos: »Mit solch einer Aktion erzeugt man keine Einsicht, sondern Gehorsam, der schnell wieder weg ist.« Schon 24 Stunden später sei der Effekt der PR-Veranstaltung verflogen.
Jäger kann sich die Haltung organisierter Verantwortungslosigkeit erlauben. Nicht nur die Fraktionen von SPD und Grünen unterstützen ihn im Landtag, auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hält zu ihrem Innenminister. Ein gutes Jahr vor der Wahl wird sie, kurz nach einer Kabinettsumbildung, nicht einen ihrer wichtigsten Minister austauschen. Kraft, die selbst lange zu den Vorfällen von Köln schwieg, vertritt zudem eine ähnlich Politik wie Jäger: Für die Probleme im Land übernimmt sie ebenfalls nie die Verantwortung, Showtermine indes schätzt sie. Jäger ist nicht mehr als ihr treuer Schüler.