Ska Keller im Gespräch über die Rolle der Türkei

»Es gibt eine Solidaritätsverpflichtung«

Für das Asylverfahren ist nach EU-Recht das Land der ersten Einreise zuständig. Während Staaten im Inneren der EU ihre Grenzen schließen, wird Griechenland dafür kritisiert, mit dem Andrang an Menschen nicht fertig zu werden. Man droht dem EU-Land mit dem Rauswurf aus dem Schengen-Raum. Ska Keller, Turkologin und Islamwissenschaftlerin, sprach mit der Jungle World darüber, wie die Flüchtlinge in die Türkei verlagert werden, anstatt dass sich die Länder der EU über eine Verteilung in Europa einigten.

Die Niederlande wollen ab März Fähren an der griechischen Küste einsetzen, um Flüchtlinge direkt in die Türkei zurückzutransportieren. Auch Deutschland soll den Plan unterstützen. Wird versucht, die Flüchtlinge auszulagern?
So sieht es ganz klar aus. Die Mitgliedsstaaten sind alle bemüht, dass die Flüchtlinge nicht in die EU kommen. Dazu werden jetzt illegale Mittel eingesetzt, nämlich das Zurückschicken von Flüchtlingen, ohne dass ihr Asylantrag geprüft worden ist. Das widerspricht europäischem Recht. Darüber hinaus ist diese Praxis fragwürdig, weil die Türkei schon viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Zwar laufen in der Türkei viele Sachen richtig schlecht: In den Kurdengebieten herrscht Bürgerkrieg, Journalisten werden eingesperrt, aber Flüchtlinge hat die Türkei aufgenommen. Deshalb ist es richtig, das Land finanziell zu unterstützen; aber nur bei der Flüchtlingsaufnahme darf die Türkei unterstützt werden, ansonsten nicht.
Flüchtlinge dorthin abzudrängen ist aber allein schon deshalb komplett falsch, weil die Türkei selbst bei nur 70 Millionen Einwohnern schon zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, während die EU nichts oder wenig beiträgt.
Die Türkei ist kein Paradebeispiel, was die Achtung von Menschenrechten betrifft. Steht nicht zu befürchten, dass die Geflüchteten nach Syrien zurückgeschoben werden?
Das ist ein ganz großes Problem. Es gibt schon Berichte, dass Flüchtlinge über die türkische Grenze nach Syrien zurückgeschoben wurden. Aus konservativen Kreisen höre ich in Plenardebatten oft die Forderung, dass die Türkei die Grenze zur EU abschotten, aber die Grenze nach Syrien öffnen soll, damit die Flüchtlinge in die Türkei reinkommen können. So geht es natürlich nicht. Niemand soll unter den Bomben von Assad leben, so viel ist klar. Das ist aber nur möglich, wenn auch die EU-Länder, und zwar alle Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufnehmen. Bei 500 Millionen Einwohnern in der EU ist dann auch die Zahl von einer Million Flüchtlingen nicht mehr so groß. Derzeit sind diese aber nur auf sehr wenige Länder verteilt.
Anstatt sich über die Verteilung zu einigen, hat die EU im Dezember drei Milliarden Euro finanzielle Unterstützung der Türkei beschlossen. Wie kann sichergestellt werden, dass die Türkei das Geld nicht für Abschiebungen nutzt?
Derzeit hat die Türkei dieses Geld noch nicht, aber wir müssen schauen, wie man das kontrollieren kann und wie die Finanzierung genau aussehen soll. Das darf sicher nicht nur eine Überweisung sein. Die Frage ist, inwieweit die EU-Mitgliedstaaten nicht selbst sogar beabsichtigen, dass mit diesem Geld die Grenzen in beide Richtungen abgeschottet werden sollen und das Geld gar nicht in die Unterstützung von Flüchtlingsprojekten gesteckt werden soll.
Die Türkei bekommt Geld zur Grenzab­schottung und Griechenland wird von der EU-Kommission gedroht, das Land aus dem Schengen-Raum zu auszuschließen, weil es seine Außengrenzen nicht ausreichend sichert?
Griechenland hätte seit Jahren mehr für den Aufbau eines Asylsystems tun müssen. Was Griechenland ganz klar nicht tun kann, ist, die Grenzen dichtzumachen, denn das Land hat nun mal eine Seegrenze. Was dort passiert, ist Seenotrettung und sonst nichts. Andererseits spielen die Mitgliedsstaaten Schwarzer Peter: Alle einigen sich darauf, dass das Problem in Griechenland liegt und das Land die Grenze dichtmachen soll. Wie das gehen soll, erklärt denen keiner.
Stattdessen werden Zäune gebaut und Obergrenzen beschlossen. Warum können die Mitgliedstaaten sich nicht auf eine europäische Strategie einigen?
Alle diese Mitgliedstaaten tragen dazu bei, dass man sich nicht einigen kann, weil niemand die Flüchtlinge aufnehmen will. Das Problem ist der Egoismus der Nationalstaaten, der dazu führt, dass es zu keiner Einigung kommt. Dazu gehört auch, dass Deutschland in der Vergangenheit immer wieder eine Änderung der Verteilungsregeln für Flüchtlinge abgelehnt hat. Die Dublin-Verordnung ist 2013 zum letzten Mal geändert worden. Da hat Deutschland sich noch vehement gegen eine Änderung gesträubt, obwohl Italien und das Europäische Parlament schon damals darauf gedrängt haben.
Die Kehrtwende kam, nachdem Angela Merkel im vorigen Sommer die Grenzen öffnen ließ. Das wäre wenige Monate vorher undenkbar gewesen. Wie ist der Kurswechsel erklären?
Die Leute waren ja da, auf der Autobahn aus Richtung Budapest. Vielleicht war das gar keine krasse strategische Umentscheidung, sondern es war einfach so. Wohin hätte man die Menschen schicken sollen? Es war jedenfalls das einzig Richtige, was man in dem Moment tun konnte.
Trotzdem ist die Strategie, die Flüchtlinge in den Grenzstaaten der EU zu lassen, jahrelang aufgegangen. Wird der Änderungsentwurf zur Dublin-III-Verordnung, den die EU-Kommission im März vorlegen will, daran etwas ändern?
Die Kommission wird Anfang März zunächst einen Vorschlag vorlegen und Anfang April einen neuen Gesetzentwurf. Wir hoffen, dass die Kommission eine Änderung der jetzigen Regelung vorschlagen wird. Ob sich das durchsetzen wird, ist eine andere Frage. Im Europäischen Parlament gibt es dazu eine Mehrheit, zumindest war das in den vergangenen Jahren so, aber es braucht die Mitgliedstaaten.
Die Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten ist bislang ergebnislos geblieben. Ist es überhaupt noch sinnvoll, ein Verteilungssystem zu fordern?
Es ist die einzige richtige Lösung. Den ersten Schritt in diese Richtung haben wir mit der Einigung auf die Umsiedlung von 160 000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien gemacht. Das hat zwar nicht geklappt, weil Mitgliedstaaten, die zugesagt hatten, es dann doch blockiert haben, aber es war der erste Schritt heraus aus der alten Dublin-Logik. Bei dem neuen Vorschlag der Kommission ist aber vor allem wichtig, dass er nicht nur Vorschläge zur Verteilung beinhaltet, sondern auch die Interessen der Flüchtlinge berücksichtigt, also: In welchen EU-Staaten haben sie Familie, und zwar nicht nur Kernfamilie, über welche Sprachkenntnisse verfügen sie und so weiter.
Die Blockadestaaten werden in ihrer Position oft von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt: In Tschechien sind 80 Prozent gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Machen die Regierenden dort nur das, wofür sie demokratisch gewählt worden sind?
Man muss sich fragen: Woher kommt denn diese Stimmung? Wenn sich ein Regierungschef hinstellt und sagt, Flüchtlinge seien alle kriminell, dann denken die Menschen, dass da auch was dran sein muss, und wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Stimmung wird auch von den politisch Verantwortlichen produziert. Die Regierungen müssen ihrer Bevölkerung deutlich machen, dass humanitärer Schutz notwendig ist. Da geht es um politische Führung. Diese Staaten sind der EU beigetreten und daraus ergibt sich eine Solidaritätsverpflichtung. Die gilt nicht nur für Fragen der Umverteilung des Haushalts, sondern auch in Krisensituationen. Außerdem erklärt sich jedes Land, das der EU beitritt, damit einverstanden, dass es auch Entscheidungen nach dem Mehrheitsverhältnis geben kann.
Die Flüchtlinge müssen dann in einem Land leben, in dem sie größtenteils nicht willkommen sind.
Es gab und es gibt in allen Ländern Menschen, die Flüchtlinge willkommen heißen, und es ist wichtig, einen Anfang zu machen. Auch in Ostdeutschland gibt es nicht überall eine positive Haltung gegenüber Menschen von außerhalb, aber das hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren teilweise verändert und zwar auch, weil politisch Verantwortliche vorangeschritten sind. Organisierte und unorganisierte Zivilgesellschaften gibt es überall, und die müssen wir unterstützen.