Politische Krise, Jihadismus und ausländische Intervention in Libyen

Der unerklärte Krieg in Libyen

Die Versuche der Vereinten Nationen, eine libysche Einheitsregierung zu installieren, erweisen sich weiterhin als schwierig. Dabei gilt dies als Voraussetzung für eine internationale militärische Intervention gegen den »Islamischen Staat« in Libyen. Der hat gerade mit einem militärischen Angriff auf die tunesische Stadt Ben Gardane die Muskeln spielen lassen.

Monatelang versuchte der deutsche UN-Sondergesandte Martin Kobler vergeblich, die libyschen Konfliktparteien von seiner geplanten Einheits­regierung zu überzeugen. Immer wieder hatte Parlamentspräsident Aguila Saleh das legitimierende Votum verhindert, mit dem die international anerkannten Abgeordneten aus Tobruk ihre Macht nach Tripolis abgegeben hätten – von wo sie im Sommer 2014 aus Angst vor den Milizen, die die Hauptstadt übernahmen, geflohen waren. Der selbsternannte Nationalkongress in Tripolis lehnt »das UN-Diktat« sowieso ab setzt auf einen innerlibyschen Dialog ohne internationale Beteiligung. Unterstützt wird die Fajr-­Libya-Allianz mit Beteiligung der libyschen Muslimbrüder, auf die sich der Nationalkongress stützt, von Milizen unter anderem aus Misrata, die durch jede Einmischung von außen ihre ­lukrative Bezahlung als halbstaatliche Sicherheitskräfte bedroht sehen.
Gleichzeitig breitet sich in dem zu 50 Stadtstaaten pulverisierten Libyen jihadistisches Gedankengut wie ein Buschbrand aus – auf beiden Seiten der Frontlinie. Neben dem sogenannten Islamischen Staat (IS) bieten von Petrodollars aus den Golfstaaten finanzierte salafistische Gruppen den jungen Milizionären bessere wirtschaftliche Perspektive als die Überreste jener zu 90 Prozent vom Ölexport abhängigen »sozialistischen Volksrepublik«, wie Muammar al-Gaddafi das einst reichste Land Afrikas nannte.
Doch die Geduld innerhalb der Anti-IS-Militärallianz mit den seit anderthalb Jahren verhandelnden Diplomaten neigt sich dem Ende zu. Die Bomben auf ein Trainingslager des IS in dem etwa 60 Kilometer von der tunesischen Grenze entfernten Stadt Sabratha ­Mitte Februar läuteten den Beginn eines unerklärten Kriegs ein, mit dem französische, US-amerikanische und britische Spezialeinheiten die Jihadisten von Ölquellen und Tripolis fernhalten wollen.
Für solche Geheimmissionen benötigt die sogenannte internationale Staatengemeinschaft jedoch zügig die Einladung einer legitimen libyschen Regierung, denn in Bengasi und nahe den Ölquellen sind nach diversen Quellen Soldaten bereits an Ort und Stelle.
Ein Brief soll das Problem mit dem unwilligen Aguila Saleh nun lösen. Bis zur vergangenen Woche wussten die UN-Diplomaten offiziell nur über Facebook, dass sich 100 Abgeordnete für die Einheitsregierung unter dem designierten Ministerpräsident Fayez Sarraj aussprachen. Damit wäre das nötige Quorum erfüllt, doch gemäß dem politischen Abkommen, das im Dezember unter UN-Vermittlung zustande kam, muss in Anwesenheit von Aguila Saleh oder seiner drei Vertreter abgestimmt werden.
Seit Wochen lassen sich vor allem die ostlibyschen Vertreter bei der Abstimmung im Tobruker Repräsentantenhaus blicken, und in Ostlibyen kämpft die libysche Armee gegen eine Allianz aus IS und anderen Milizionären. Doch auch im Westen Libyens hat sich die Situation verschärft. Vor allem tunesische IS-Anhänger hatten libysche Trainingscamps wie im grenznahen Sabratha in den vergangenen Jahren als Basis für ihr geplantes Nordafrika-Kalifat genutzt. Seifedine Rezgui, der am Strand von Sousse im Juni vergangenen Jahres 38 Touristen erschossen hatte, war wie viele andere von einer radikalen Hinterhofgruppierung an einer Universität im tunesischen Kairouan nach Libyen geschickt worden, um den Umgang mit der Waffe zu erlernen.
Kaum überraschend war es daher, dass US-amerikanische Kampfflugzeuge schließlich am 26. Februar eine Farm südlich der für ihre römischen Ruinen berühmten Stadt dem Erdboden gleichmachten; etwa 40 überwiegend aus Tunesien stammende Jihadisten kamen dabei ums Leben. Der IS hatte in Sabratha seit Jahresbeginn das Sagen und vermietete an die Menschenschmuggler die Ablegeplätze am Strand, berichten Schmuggler aus dem benachbarten Zuwara. Seit maskierte Milizionäre in Zuwara die Anführer der Gangs festnahmen, lief das Hauptgeschäft in Westlibyen durch die Hände des IS.
Den Tod ihrer Kameraden beim US-amerikanischen Luftschlag rächten die IS-Jihadisten mit der Besetzung des Stadtzentrums von Sabratha und dem Mord an zwölf Polizisten. Der Luftangriff durchkreuzte ihren Plan, sich erst einmal von der Öffentlichkeit fernzuhalten, bis sie genug lokale Unterstützer gewonnen hatten. Mit der Enthauptung der aus Sabratha stammenden Uniformierten und der Blockade der Hauptverbindungsroute nach Tripolis hatten sie eine rote Linie überschritten. »Die Hauptstraße gehört allen Städten«, besagt ein Graffito an einer Mauer nahe dem großen römischen Theater.
Nun kämpfen die Stadtmilizen aus Zintan, Surman, Zawiya und Zuwara mit einer Einheit aus Sabratha gegen die »Tunesier« des IS. Mit dem grenzüberschreitenden Ansatz des IS können die meisten lokalen Milizen in Libyen zwar nichts anfangen. Bei der Wahl ihrer Bündnispartner sind sie aber nicht pingelig. Gruppen, die noch bis vor kurzem als Menschenschmuggler oder Milizionäre rivalisierender Gruppen in dem IS-Camp ein und aus gingen, geben sich nun als moderate Befreier.
Die Kettenreaktion nach dem Luftangriff setzte sich auch ungehemmt nach Tunesien fort. In dem Schmugglernest Ben Gardane, wo ein beträchtlicher Teil der südtunesischen Kaufkraft durch subventioniertes Benzin oder elektronische Geräte informell erwirtschaftet wird, hatten IS-Schläfer nach Angaben des Polizeichefs bereits im vorigen Jahr Waffendepots angelegt. Am Montag vorvergangener Woche schlugen sie zusammen mit aus ­Libyen über die Grenze kommenden IS-Gruppen los. »Zuerst erschossen sie den Chef der Anti-Terror-Polizei im Schlaf, dann stürmten die wie Afghanen gekleideten Bärtigen die Polizeiwache und die Armeekaserne«, berichtet der Taxifahrer Dau Jedi aus der Kleinstadt mit 50 000 Einwohnern.
Der scheinbar aussichtslose Übernahmeversuch von nach unterschiedlichen Angaben 50 bis 100 Jihadisten in Ben Gardane gegen die von Hubschraubern und Panzern unterstützte Armee und Nationalgarde dauerte noch am folgenden Tag an. Mehrere der jungen Tunesier, einige kaum älter als 16 Jahre, feuerten wahllos aus dem Hinterhalt auf Passanten und die nervösen Sicherheitskräfte.
»Das Himmelfahrtskommando war eine Demonstration der Stärke, auch wenn über 40 Angreifer starben«, sagt ein Händler in Ben Gardane, der aus Sabratha importierte Waschmaschinen und Fernseher nach Tunis verkauft. »Ich habe weniger Angst vor dem IS als vor den lokalen salafistischen Bewegungen, die danach kommen könnten. Denn diejenigen, die zum bewaffneten Kampf gegen die Korruption und Macht der Elite in Tunis oder der Polizei aufrufen, haben viele Anhänger im Süden«, sagt er leise.
Nach dem Grund für den Groll auf den Staat und die Politiker im fernen Tunis muss man in Ben Gardane nicht lange suchen. Je näher man auf den Straßen voller Müll und Schlaglöcher der Grenze kommt, desto enger stehen die verbeulten Blechhütten der Geldwechsler und die Lagerhäuser der Händler zusammen, unter deren Ladentischen auch Waffen und Drogen die Besitzer wechseln. »Was sollen wir machen«, sagt der Schmuggler Lotfi Menem. In Ben Gardane gebe es weder eine Fabrik noch ein Touristenhotel wie auf Djerba, rechtfertigt er sich. Ohne Arbeit bliebe den meisten nur der Schmuggel zum Überleben.
Seit auf der 150 Kilometer entfernten All inclusive-Insel Djerba und in der Oase nahe Zarzis die meisten der rund 150 Hotels dichtgemacht haben, sind auch hier die verbitterten Verkäufer zu sehen, die Benzin aus Kanistern und Zigaretten am Straßenrand verkaufen. Die libysche Regierung hält den Literpreis trotz leerer Staatskassen bei rund zehn Cent pro Liter, zehnmal weniger als in Tunesien. »Damit verdiene ich mehr pro Monat als die 250 Euro in den Hotels«, sagt ein freundlicher Herr auf Deutsch, der seine Privattankstelle bei Zarzis aufgemacht hat.
»Wenn sich die tunesische Regierung mit ihrem libyschen Gegenpart nicht schnell auf eine gemeinsame wirtschaftliche Strategie einigt, werden der Schmuggel und die Radikalen den vernachlässigten Süden Tunesiens der staatlichen Kontrolle entziehen, wie es bei uns in Libyen geschehen ist«, warnt Milizenführer Ayoob aus dem 60 Kilometer von der Grenze zu Tunesien entfernt gelegenen Zuwara, der seinen Nachnamen in keiner Zeitung sehen möchte.
»Immerhin eines hat unser Aufstand gegen Muammar Gaddafi erreicht«, lacht der Berber zufrieden: »Der Zentralismus ist abgeschafft.« »Eine Einheitsregierung in Tripolis wird in Sabratha und Zuwara nichts gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen können. Die Macht im neuen Libyen ist lokal verankert.« Von dem neu gebauten Grenzwall an der libysch-tunesischen Grenze hält der 28jährige nicht viel. »Nicht nur die Flucht der 70 IS-Anhänger aus Sabratha zeigt doch, dass man mit Geld und Kontakten in Tunesien alle Sicherheitsmaßnahmen umgehen kann.«
Im Niemandsland südlich des tunesischen Grenzübergangs Ras Jedir, wo die maskierte Bürgertruppe aus Zuwara immer wieder IS-Anhänger festnahm – einige mit Sprengstoffwesten –, treffen sie auch auf tunesische Polizisten, die sich in Zivil nach Sabratha oder Syrte durchschlagen, um sich dort möglicherweise Milizen anzuschließen. »Seit die moderaten Islamisten der al-Nahda in Tunis an der Macht waren, sind die Sicherheitskräfte anscheinend unterwandert, viele sympathisieren mit einer Art islamischen Widerstand gegen Präsident Essebsi und die Gaddafi-Anhänger in Libyen«, sagt Ayoob.
Rund 500 Euro kostet die Fahrt nach Sabratha bei den Schmugglern in Ben Gardane, die tunesischen Grenzposten geben sich mit 1 000 Euro zufrieden, dem Doppelten ihres Monatsgehalts, um zu einer bestimmten Zeit weg zu schauen. Seit langem ist den Benzin- und Elektronikschmugglern bekannt, dass die libyschen IS-Milizen über die Grenze bei Ras Jedir Nachschub für ihre Afrika-Basis in Syrte bringen.
Dass Libyen in der Strategie des IS nicht nur ein Rückzugsort, sondern die strategische Basis für die Expansion nach ganz Afrika ist, hat der Angriff auf Ben Gardane den letzten Zweiflern in Tunesien klar gemacht. Offenbar warteten versteckte Zellen in anderen Orten darauf, zuzuschlagen.
Das nächste Ziel des IS ist Tripolis, sind sich Aktivisten in Libyen sicher. Martin Koblers Wunsch, in der libyschen Hauptstadt das Büro der UN wieder zu eröffnen, könnte mit Hilfe von mehreren Hundert italienischen und britischen Soldaten erfüllt werden. Die Planungen dafür laufen nach Angaben des italienischen Verteidigungsministers auf Hochtouren.
Doch das Wissen über die Lage an Ort und Stelle ist derzeit dürftig. Wie die meisten Diplomaten, die sich noch mit dem Mittelmeeranrainerstaat mit sechs Millionen Einwohnern und 2 100 Kilometern Küste beschäftigen, war Kobler bisher nur wenige Stunden im Land, seine Mitarbeiter haben Tripolis Mitte 2014 verlassen. »Kaum jemand aus Tripolis war nach der Revolution jemals in Bengasi oder im Süden Libyens. Kein Wunder, dass die Minderheiten der Tuareg, Tobu und Berber sowohl die Parlamentswahlen als auch der verfassungsgebenden Versammlung boykottiert haben«, schimpft Mohammed Essul. Der Organisator von Diskussionsclubs und einer Messe für gebrauchte Bücher glaubt wie viele Aktivisten nicht, dass eine unter UN-Vermittlung gebildete Einheitsregierung eine beständige Aussöhnung bringen könnte.
Viele der Verhandlungspartner können selbst nicht zurück nach Tripolis, zuletzt wurden drei Sicherheitsbeauftragte des neuen Ministerpräsidenten am Flughafen Maitiga festgenommen.
Er sei für jede Lösung, die den Verfall des libyschen Dinar und die Kämpfe stoppt, sagt Mohammed Essul müde. »Aber nachdem die internationale Gemeinschaft trotz der 90 erfolgreichen Gemeinde- und zwei Parlamentswahlen auf die Milizen setzt, um ihre Rückkehr in die Hauptstadt zu sichern, haben wir auch den letzten Funken Hoffnung verloren, die Bewaffneten wieder loszuwerden.«
Vor allem Aktivisten aus Bengasi sehen in dem Plan der UN, eine Einheitsregierung zu installieren, um auch mit lokalen Milizen gegen den IS vorzugehen, einen Verrat an den Zielen, für die sie vor fünf Jahren auf die Straße gegangen waren. »Die Diplomaten wollen die Einheitsregierung mit einem Brief legitimieren, von dem sich einige Unterzeichner jetzt distanzieren. Die Allianz der UN mit Verbrechern, nur um in die Hauptstadt zurückzukehren, zeigt, dass es nur um Geld und Macht geht.«
Der Englischlehrer und Zeitungsmacher Taufwik Mansoury klingt, anders als noch vor wenigen Wochen, trotz seiner Kritik optimistisch. Aus großen Teilen von Libyens zweitgrößter Stadt hat die Armee die Extremisten des Shura-Rats und des IS vertrieben. »Die Leute in Bengasi kämpfen anders als 2011 nun auf sich alleine gestellt. Sie haben gelernt, dass die sogenannte Internationale Gemeinschaft immer mit den Starken und nicht den Schwachen spricht, und unterstützen daher die Armee.«
Eine weitere Eskalationsstufe des Kriegs in Libyen hat gerade erst begonnen.

Der IS in Libyen
In den Monaten seit Herbst vergangenen Jahres hat sich nach Schätzungen US-amerikanischer Geheimdienstler die Anzahl der Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats in Libyen mehr als verdoppelt, 6 500 sollen es derzeit sein. »Führer des Islamischen Staats in Syrien sagen Rekruten, die von westafrikanischen Staaten wie Senegal oder dem Tschad nach Norden reisen, ebenso wie andern, die durch den Sudan in Ostafrika strömen, nicht weiter in den Nahen Osten zu reisen, sondern in Libyen an Ort und Stelle zu bleiben«, berichtete die New York Times.
Ironischerweise stellt sich der IS in Libyen als Verteidiger des Landes gegen ausländische Kräfte dar, während er immer mehr Kämpfer aus anderen Ländern in seine Strukturen integriert. Ein in der vergangenen Woche vom UN-Sicherheitsrat veröffentlichter Bericht merkte an, der IS in Libyen habe ein »nationalistisches Narrativ verbreitet, indem er sich als das wichtigste Bollwerk gegen eine ausländische Intervention porträtiert«.
Zudem heißt es in dem Bericht: »Während der IS in Libyen derzeit keine direkten Einnahmen aus der Ölförderung in Libyen generiert, gefährden seine Angriffe auf Ölanlagen ernsthaft die wirtschaftliche Stabilität des Landes.« Nach Schätzungen gingen Libyen wegen der Kämpfe verfeindeter Milizen seit 2013 fast 70 Milliarden Dollar an potentiellen Einnahmen aus dem Ölexport verloren. Im übrigen, so der Bericht, würden immer mehr Libyer den Brutalitäten der terroristischen Gruppe zum Opfer fallen. bb