Die Bibelkommunisten vom Iowa-River

Einst praktizierten deutsche Kolonisten in Iowa die Gemeinwirtschaft. Die Amana-Kolonie war eine von vielen utopischen Siedlungen in den USA, die heute in Vergessenheit geraten sind.

Als der Kalte Krieg begann, frohlockte im November 1946 das American Magazin: »Der Kommunismus in Iowa ist zusammengebrochen.« 77 Jahre habe die Amana-Kolonie den Kommunismus strikter praktiziert als jede andere Gruppe auf der Welt, 1932 war es damit vorbei. Jetzt, gut 150 Jahre nach Beginn eines der interessantesten sozialen Experimente, gibt es immer noch Sauerbraten mit Soße in Amana und in den sieben Dörfern der Kolonie entlang des Iowa River im Staate Iowa sprechen die alten Herrschaften noch immer Deutsch mit hessischem Zungenschlag.
Es ist Sonntag, ein paar Minuten nach zehn Uhr, als Raymond Berger mit seinem blauen Toyota auftaucht. »Ray« steht auf dem Nummernschild. Es dauert ein bisschen, bis er die Tür zum Homesteadt Store Museum aufschließt, aber Ray ist auch schon 84 Jahre alt. 1928, als er geboren wurde, herrschte in Amana noch die alte Ordnung. Wie es damals zuging, kann man in dem Museum erfahren, das im ehemaligen Warenhaus untergebracht ist. Wenn Kommunismus die »Idee der Gleichheit auf der Basis von Gemeineigentum« ist, wie es das Lexikon definiert, dann waren sie damals hier in den grünen Hügeln von Iowa verdammt kommunistisch. Und das von 1855 bis 1932. In dieser Zeit errichteten die deutschen Siedler die sieben Dörfer der Amana-Kolonie, nicht allzu weit voneinander entfernt, umgeben von Äckern und Feldern.
Von US-amerikanischen Siedlungen unterscheiden sie sich auch heute noch durch ihre braunen Backsteinbauten, durch Blumenbeete vor der Tür, durch ihre Gehsteige – alles wie in einem hessischen Dorf. Selbstverständlich stehen im Restaurant »Ronneburg« das Wiener Schnitzel und der Sauerbraten auf der Speisekarte, das süffige Bier stammt aus der hiesigen Brauerei, der ältesten in Iowa.
Man sieht auch heute noch, dass die Kolonie auf einer soliden wirtschaftlichen Grundlage beruhte – alles in gemeinsamem Besitz. Neben der Landwirtschaft als Basis errichteten die rund 1 800 Siedler nach und nach die Bierbrauerei, eine Wollfabrik, eine Kattunfabrik und ein Hotel, jedes Dorf hatte eine Bäckerei, einen Schmied und andere Handwerker. Innerhalb der Kolonie gab es kein Geld, jeder wurde aus der Kollektivwirtschaft mit dem versorgt, was er benötigte: Essen, Kleidung, Wohnung, medizinische Betreuung, Bildung.
Ein Element dieser Zeit lässt sich noch immer in Middle Amana besichtigen: Die kommunale Küche. Denn während der Zeit des Iowa-Kommunismus gab es in den Wohnhäusern keine eigenen Küchen. Gekocht und gegessen wurde in Kollektivküchen, von denen es insgesamt 60 in den sieben Dörfern gab. Jede Küche versorgte 30 bis 40 Personen mit drei Mahlzeiten pro Tag und wurde von einer »Küche Baas«, unterstützt von drei oder vier Frauen, geführt. Die Küche in Middle Amana war eine von neun Küchen im Dorf. Sie ist heute als Museum zu besichtigen und befindet sich in dem Zustand von 1932. Marie Steinmüller Ruedy hieß die letzte Küchenchefin und auch den Speiseplan kann der Besucher studieren: Kartoffelknödel, Krautsalat, gesottenes Rindfleisch. Für die Arbeit in den Küchen und den anderen diversen Wirtschaftszweigen gab es keinen Lohn. Dafür erhielt jeder beim Kramerladen im Dorf einen jährlichen Kredit, von dem er Dinge des täglichen Bedarfs erwerben konnte: Tabak, Schuhe, Süßigkeiten, Stoffe und dergleichen mehr.
Derlei soziale Sicherheit macht entspannt. Besucher in der Amana-Kolonie registrierten mit großer Aufmerksamkeit, dass die Menschen sich bei der Arbeit nicht allzu sehr hetzten, vielmehr locker zu Gange waren. Nach dem Besuch der Wollfabrik etwa schrieb ein Beobachter, die Arbeiter dort würden sich gewiss nicht zu Tode schuften, sie machten vielmehr einen gelassenen und zufriedenen Eindruck. Außerhalb hatte die Kolonie den Ruf, dass man dort nicht zu hart, aber solide und fachmännisch arbeitete. Vom Existenzdruck befreit, ging man nach eigenem Tempo ans Werk, ohne an Effektivität einzubüßen.
All dies funktionierte ohne Marx und Engels. Freilich, ohne geistige Orientierung ging es nicht. Dafür ist in Amana heute Emily Oehl zuständig. Die agile, weißhaarige 85jährige führt durch die Amana Community Church, einen als Museum deklarierten Gebetsraum. Sein Merkmal ist die absolute Schmucklosigkeit: Zwischen weißgekachelten Wänden sind etliche Holzbänke das einzige Mobiliar. Hier versammelten sich Bewohner von Amana bis zu elf Mal pro Woche für den Gottesdienst beziehungsweise das Nachtgebet.
Die Gründerväter von Amana kamen aus der pietistischen Bewegung im Europa des 18. Jahrhunderts und gehörten der Gruppe der »Inspirierten« an. Diese gingen davon aus, dass bestimmte Individuen zur Wahrnehmung göttlicher Inspiration fähig waren, diese Personen wurden als Werkzeuge Gottes angesehen. 1842 beschloss eine der Gruppen von »Inspirierten« um den Zimmermann Christian Metz die Auswanderung aus Hessen nach Amerika. 1845 gründete die Gruppe unter dem Namen »Ebenezer Society« eine erste Kolonie im Staate New York. Probleme mit den Nachbarn führten 1855 zu einer Umsiedlung in das abgelegene Gebiet am Iowa River, wo die religiöse Gemeinschaft 26 000 Morgen Land erstand.
In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts prosperierte die Amana-Gemeinde, die Fabriken wurden errichtet, die Dörfer ausgebaut. So ging das 77 Jahre lang, das kommunistische Amana am Iowa-River existierte länger als die Sowjetunion. Doch 1932 kam die große Wende, »the great change« – die Mehrheit stimmte für eine Auflösung der Gemeinschaft. Ab 2. Mai 1932 nahm die neue »Amana Society Corporation« ihren Betrieb auf. Ein soziales Experiment war zu Ende gegangen, das 77 Jahre lang Bestand gehabt hatte. Für die Kolonisten begann eine neue Zeit.
Amana ist als Ausflugsziel und als touristisches Highlight in den USA bekannt von South Dakota bis nach Illinois. Nur in Europa scheint die Kolonie mit ihrer bibel-kommunistischen Geschichte vergessen zu sein. So wie auch viele andere utopische Kommunen in den USA, die der deutschstämmige Journalist Charles Nordhoff besuchte, als er 1874 eine Reise quer durch den amerikanischen Kontinent unternahm. Wie Nordhoff feststellte, zeichneten sich sämtliche Kommunen durch die Abwesenheit von Privatbesitz aus, ihre Mitglieder wirtschafteten und lebten im Kollektiv, ohne Löhne und Geld. Ihre Arbeit war selbstbestimmt und geprägt von einer Abwechslung, die man heutzutage als Jobrotation bezeichnen würde. In den Kommunen gab es keine Armen und Reichen, das Leben war frei von Zukunfts- und Existenzangst. Alle Kommunen waren wirtschaftlich sehr erfolgreich und garantierten die Versorgung ihrer Mitglieder mit den notwendigen Dingen des Lebens.
Gemeinsam war ihnen ihr Pazifismus und eine religiöse Grundlage, während sie sich in der Einstellung zur Sexualität sehr unterschieden: Manche Kommunen propagierten das Zölibat, andere wiederum die freie Liebe. Dazwischen standen die Gemeinschaften, die auf Ehe und Familie aufbauten. Von den säkularen sozialistischen Versuchen unterschieden sich die utopischen Gemeinschaften in den USA auch durch ihre lange Lebensdauer.
Heute werden diese Kolonien »kommunitaristisch« genannt, Nordhoff bezeichnete sie noch als »kommunistisch«. So heißt sein 1875 erschienener Bericht über seine Reise auch »The Communistic Societies of the United States« – »Die kommunistischen Gesellschaften der Vereinigten Staaten«. Knapp 140 Jahre später haben die meisten dieser sozialen Experimente längst aufgehört zu existieren, doch von ihnen blieben die Siedlungen, die Nachfahren und ihre Geschichte. Die wiederum lässt sich in Museen erforschen, oft kümmern sich örtliche historische Gesellschaften um das Erbe, veranstalten Führungen, geben Broschüren heraus und bieten ein soziales Forum für die Nachfahren.
Von Rudolf Stumberger ist kürzlich erschienen: Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunen in den USA. Wien 2015, Mandelbaum-Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro