Markus Niedobitek von der Platypus Affiliated Society im Gespräch über den Tod der Linken

»Historisches Bewusstsein schaffen«

Markus Niedobitek, Mitglied der in den USA entstandenen Gruppe Platypus Affiliated Society, spricht über den Tod der Linken und den Umgang mit dem geschichtlichen Erbe.

Wie kam es zur Entstehung der Platypus Affiliated Society?
Ausschlaggebend für die Gründung der Gruppe waren die Erfahrungen mit der Bewegung gegen den Irak-Krieg, Erfahrungen der Frustration. Es gab eine große Bewegung auf den Straßen, die keine Begriffe für die eigene Politik und dementsprechend sehr unklare Ziele hatte. Die Diskussion entzündete sich an dem Begriff des Imperialismus, der in dieser Bewegung vorherrschend war. Man verstand sich als Antiimperialist und Kämper gegen den Imperialismus. Doch was bedeutet Antiimperialismus, wenn die Gegner des Imperialismus häufig eher in der Rechten als in der Linken zu finden sind? Antiimperialismus hatte nichts mehr von der scheinbaren Evidenz früherer Zeiten. Mit der damaligen Antikriegsbewegung wurde auch die Frage des Antiimperialismus und dessen Bezug zur Linken wieder problematisiert. Platypus ist einen Schritt weitergegangen und hat die Frage gestellt, was eigentlich die Linke heute auszeichnet und wie sie sich zu ihrer eigenen Vergangenheit verhält. Das war die Gründungsfrage von Platypus: Was war die Linke, was ist sie und was kann sie werden?
Wie ging es dann weiter?
Platypus hat das zum Ausgang genommen, sich mit der Geschichte der Linken auseinanderzusetzen. Denn die Demonstrationen hatten wir als Ausdruck eines historischen Niedergangs der Linken wahrgenommen. Dieser zeigte sich zum Beispiel auch bei den Protesten in Seattle 1999 gegen die Ministerkonferenz der WTO, wo blinder Aktionismus vorherrschte. Wir sahen darin ein Indiz dafür, dass der ursprüngliche Anspruch der Linken, die Ausrichtung auf Freiheit, gesellschaftlichen Fortschritt und ein gewisses utopisches Potential, in solchen Situationen verschwunden war. Uns interessierte, inwieweit die Gegenwart ein Produkt des Niedergangs der Linken ist. Um dies herauszufinden, organisieren wir Lesekreise und Podiumsdiskussionen, auf denen wir Vertreter verschiedenster linker Positionen zu Wort kommen lassen, um kontrovers über das Erbe der Linken zu diskutieren. Wir haben Podiumsdiskussion zu ganz unterschiedlichen Themen organisiert, unter anderem zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus, zum Begriff des Antifaschismus und zur Neuen Linken. Unsere nächste Podiumsdiskussion findet am 15. Juni in Frankfurt am Main statt, unter dem Titel: »Was ist Imperialismus? Warum sollten wir dagegen sein?«
Wie verwendet ihr den Begriff der Linken? Was ist die Linke?
Wir verstehen unter der Linken diejenige gesellschaftliche Bewegung, die sich durch ein Bewusstsein von gesellschaftlichen Möglichkeiten auszeichnet und zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten drängt – in diesem Sinne würden wir von einem »utopischen Potential« der Linken sprechen. Die Linke ist ohne Frage ein modernes Phänomen. Sie setzt ein mit der Französischen Revolution, der radikalen bürgerlichen Philosophie und den utopischen Sozialisten, später wird der Marxismus zentral werden. Unseres Erachtens ist es gerade diese Art des Bewusstseins, die das geschichtlich Neue der Linken ausmacht. Um ein Beispiel zu bringen: Wir würden sagen, dass der Kampf gegen Unterdrückung und Herrschaft kein genuin linkes Phänomen ist, weil er transhistorisch stattfindet, von den antiken Sklavenaufständen an, aber nicht diese Spezifik des Bewusstseins von Möglichkeiten hat. Der Horizont solcher Kämpfe verblieb im Rahmen derjenigen Strukturen, die in der jeweiligen Gesellschaftsformation vorgegeben waren. Die Linke als modernes Phänomen zeichnet sich aber gerade aus durch dieses Bewusstsein von möglichem gesellschaftlichen Fortschritt und die Fähigkeit, die Wirklichkeit als Ganzes zu kritisieren. Sie gibt sich nicht mit dem Seienden, der faulen Existenz, zufrieden, sondern denkt den nächsten Schritt der Menschheit. Der polnische Philosoph Leszek Kołakowski hat, als er noch Marxist war, einen Text über den Sinn des Begriffs der Linken geschrieben, in dem er das utopische Bewusstsein als zentrales Wesensmerkmal der Linken definiert. Wie auch beim frühen Marx …
... der sagte, dass »die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen«. Doch wie sieht es heute aus?
Für die Gegenwart kann kein positives Programm der Linken formuliert werden, weil die Linke unseres Erachtens tot ist. Diesen Zustand sehen wir als das Resultat eines historischen Prozesses, einer Abfolge von unverarbeiteten Niederlagen an, die insbesondere im 20. Jahrhundert die Linke geprägt haben. Der Marxismus, der heute ja auch tot ist, nimmt eine besondere Rolle innerhalb der Entwicklung der Linken ein. Der Beitrag von Marx und dem Marxismus bestand in einer stetigen Selbstkritik der Linken. Der Marxismus war eine Tendenz und eine treibende Kraft innerhalb der Linken – war aber zugleich nicht identisch mit ihr.
Im Marxismus gibt es ja einen Widerstreit zwischen Utopie und Wissenschaft. Engels schrieb beispielsweise den berühmten Text »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« und der Schriftsteller Volker Braun sagte angesichts des Zusammenbruchs des Ostblocks, und, wie ich ihn verstehe, keineswegs nur despektierlich, dass das der Übergang zurück zur Utopie sei. War der wissenschaftliche Marxismus ein Fortschritt im Bewusstsein von der abstrakten Vorstellung zur konkreten Planbarkeit und zugleich ein antiutopisches Programm?
Für die Gegenwart kann man festhalten, dass der Marxismus weder eine Utopie noch eine Wissenschaft darstellt, und das betrifft die Linke insgesamt. Das sind schlechte Bedingungen für sozialistische Politik. Und gleichzeitig sind die gesellschaftlichen Verhältnisse überreif, wie Trotzki schon in den zwanziger Jahren sagte, um nicht zu sagen: Sie verfaulen schon. Aber es fehlt jegliches linke Bewusstsein und auch jegliche einem solchen Bewusstsein angemessene Praxis. In den besten Momenten des Marxismus, bei Marx, bei Luxemburg, bei Lenin, war es gelungen, eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis herbeizuführen, an das Bestehende anzuschließen und doch über es hinauszugehen, einer realen Bewegung einen utopischen Horizont zu geben. Aber zu der Geschichte der Linken gehören auch die Niederlagen, auch die uneingestandenen, verdrängten, die unseres Erachtens für den desolaten jetzigen Zustand ausschlaggebend sind.
Wie weiter mit der heutigen Linken? Ihr möchtet das Gespräch über den Tod der Linken moderieren. Soll damit der Niedergang der Linken von einer verdrängten Tatsache zur Tatsache des Bewusstseins werden?
Der Tod der Linken vollzieht sich sowieso vor unseren Augen. Wir müssen sogar die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Linke als Trägerin von utopischem Bewusstsein im oben geschilderten Sinne überhaupt aus der Welt verschwindet. Wir sehen unsere Aufgabe also darin, dass der Tod der Linken bewusst stattfindet, gerade um eine neue Linke möglich zu machen. Die Überreste und Bruchstücke der historischen Linken, die heute noch existieren, sehen wir weniger als Ausgangspunkte eines positiven politischen Programms, sondern als Bestandteile einer Tradition, von der wir viel lernen können. Wir wollen, auch mit unseren Veranstaltungen, diese Elemente miteinander ins Gespräch bringen. Was wir nicht wollen, ist falsche Einigkeit. Was übriggeblieben ist, können wir nicht einfach wieder zusammensetzen, sondern aus den realen Widersprüchen müssen wir zu etwas Neuem kommen.
Ihr macht Lesekreise, studiert historische Texte, von der radikalen bürgerlichen Philosophie über den Marxismus bis Adorno. Warum die zentrale Stellung der Studiums der Geschichte? Ist die Geschichte die »einzige Wissenschaft«, wie Marx und Engels schrieben?
Theorie der Gegenwart bedeutet auch Theorie ihrer historischen Gewordenheit. Die Linke hat das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt – als zentrales und kontroversestes Datum kann sicher 1917 als Jahreszahl der Oktoberrevolution gelten, die wiederum Gegenkräfte hervorgerufen und neue Probleme kreiert hat. Und die Niederlagen der Linken, die unter anderem zur These vom »Sozialismus in einem Land« im Stalinismus führten, wirken bis heute nach. Die Neue Linke der sechziger und siebziger Jahre hat versucht, eine neue Praxis zu schaffen und die Probleme der »alten Linken« der zwanziger und dreißiger Jahre hinter sich zu lassen; doch es hat sich im Verlauf der Bewegung gezeigt, dass sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln lässt, sondern – sofern sie nicht adäquat verarbeitet wird – wiederkehrt, wofür auch die scheinbar aus dem Nichts erfolgte Hinwendung zum Maoismus in den siebziger Jahren ein Indiz ist. Eine solche Wiederkehr des Verdrängten, des Nichtbearbeiteten, sehen wir beispielsweise in aktuellen Fragen zur politischen Organisation und den Auseinandersetzungen um Begriffe wie Autoritarismus und Antiautoritarismus, die auch ein Erbe der Neuen Linken darstellen.
Wenn es um Autoritarismus und Antiautoritarismus geht, dann steht die Frage nach der Organisation der Linken zur Debatte; es geht also um den Begriff der Partei, der vor allem für den Marxismus wichtig ist. Marx hatte meines Erachtens noch einen Begriff von Partei, der sich nicht ausschließlich auf den Apparat bezog, sondern eher auf eine geschichtliche Bewegung, die ihre Form sucht. Wie versteht ihr den Begriff der Partei?
Wir halten in der Geschichte der Linken nichts, und wirklich gar nichts, für selbstverständlich, so dass es unmittelbar in die Gegenwart übernommen werden könnte. Das gilt auch für das Konzept der Partei, das verschiedene historische Formen hat, aber in der Linken vor allem des 20. Jahrhunderts zentral ist, weshalb wir die Frage der Partei ernstnehmen müssen. Bei Georg Lukács zum Beispiel ist die Partei nicht statisch, sondern als Form, in der sich die Widersprüche bewegen können, als eine Vermittlungsfigur gedacht, mit der Konsequenz, dass die Partei selbst wandlungsfähig bleibt. Doch wurde diese Vermittlungsfunktion zwischen marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis im Stalinismus eher aufgelöst. Theorie wurde zum Rechtfertigungswerk für praktische Niederlagen, so dass es unmöglich wurde, aus diesen zu lernen. Zuvor war es die zentrale Aufgabe der Partei gewesen, geschichtliche Erfahrungen zu sammeln, zu vermitteln und sich dementsprechend selbst zu verändern. Die Partei sollte keineswegs als Form, die ein für alle mal gegeben ist, fetischisiert werden; das ist eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts.
Platypus hat im Februar dieses Jahres eine erste Ausgabe der eigenen Zeitschrift, Platypus Review, auf Deutsch veröffentlicht. Das Thema ist »Die Politik der Kritischen Theorie« und es geht unter anderem um Adornos Leninismus. Die Diskussion ist in den USA vor allem mit der Veröffentlichung der Protokolle der Diskussionen zwischen Adorno und Horkheimer, in denen es auch um den Begriff der Partei und um Lenin geht, geführt worden. Warum habt ihr die erste Ausgabe zu diesem Thema herausgebracht?
Uns ist aufgefallen, dass in der Rezeption der Kritischen Theorie oft einseitig die Diskontinuität zum sogenannten orthodoxen Marxismus betont wird. Es gibt auch tatsächlich eine Diskontinuität, die sich aber erst begreifen lässt, wenn man auch den Zusammenhang von Kritischer Theorie und Marxismus bedenkt, die Bezugnahme von Adorno und Horkheimer auf den Begriff der Partei beispielsweise. Adorno sagt in der Diskussion 1956, dass er eine Theorie entwickeln möchte, die »Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber auch andererseits nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt«. Die Kenntnis des Zusammenhangs ist wichtig, um die Differenzen verstehen und beurteilen zu können. Für die Kritische Theorie ist die Erfahrung des Scheiterns der Revolution ein zentrales Moment. Wir wollten die Frage stellen, inwieweit Kritische Theorie an einer revolutionären Tradition festhält in Zeiten, in denen keine Praxis dieser gerecht werden kann.
Die Erfahrung der gescheiterten Revolution ist nicht unmittelbar in die Gegenwart übertragbar, aber irgendwie ja doch verbindlich für uns heute. Wie kann man diese Erfahrung zugänglich machen?
Horkheimer und Adorno überlegten, ob man das »Kommunistische Manifest« neu schreiben sollte. Das ist ein anderer Kontext. Die heutige Linke steht eher in der Tradition der Neuen Linken, die zur Kritischen Theorie zwar in einem produktiven Verhältnis stand, aber gleichzeitig von Adorno für ihre »Pseudo-Aktivität« kritisiert wurde, der in ihrem Scheitern auch einen verpassten historischen Moment sah. Die Beziehung von Adorno und Hans-Jürgen Krahl ist sehr interessant, da sie sich zwischen Wertschätzung und Kritik bewegt. Horkheimer, und erst recht Marcuse, hatten wiederum nochmal ein anderes Verhältnis zur Neuen Linken, aber es gab schon zu diesem Zeitpunkt verschiedene historische und politische Erfahrungen, die zu kommunizieren versucht wurden. Entscheidend ist ein historisches Bewusstsein für solche Vorgänge. Das ist auch, was wir als Aufgabe von Platypus sehen: historisches Bewusstsein schaffen – und nicht ein positives Programm anbieten.
Die Platypus Review ist für euch ein wichtiger Teil des Versuchs, die historische Krise der Linken bewusst zu machen. Für die erste Ausgabe habt ihr das an der Kritischen Theorie verdeutlicht. Was ist das Thema der zweiten Ausgabe?
Die zweite Ausgabe der deutschsprachigen Platypus Review erscheint im Mai. Es wird um das Buch »Die Idee des Sozialismus« von Axel Honneth gehen, der sich selbst in der Tradition der Kritischen Theorie sieht, und es wird ein Transkript einer ­Podiumsdiskussion zu der Frage geben, was eigentlich neu an der Neuen Linke war. Wir verstehen das Heft als ein offenes Debattenmagazin. Alle, die ein ernsthaftes Inter­esse haben, den gegenwärtigen Zustand der Linken produktiv zu verhandeln, statt ihn bewusstlos zu verwalten, sind eingeladen, Artikel ­einzusenden. Wir wollen die Widersprüche schärfen und deutlich machen, um zu einer Selbstklärung beizutragen. Denn Floskeln, Phrasen, Worthülsen und falsche Einigkeit gibt es allerorts, das ist ja gerade der Tod der Linken.

Die Platypus Affiliated Society wurde Ende 2006 in Chicago ­gegründet. Die Gruppe versteht es als ihre Aufgabe, die Neuorganisation einer marxistischen Linken durch gegenseitigen Kritik und Bildung voranzutreiben. Inzwischen gibt es sie in mehreren Städten der USA, außerdem in Kanada, Griechenland, Großbritannien, Österreich, Deutschland und im Kosovo. Markus Niedobitek ist seit 2011 Mitglied und kam während eines Auslandsaufenthalts in den USA mit der Gruppe in Kontakt. Niedobitek ist verantwortlicher Redakteur der deutschsprachigen Ausgabe der »Platypus Review«, deren Online-Ausgabe hier zu finden ist: http://platypus1917.org/die-platypus-review. Platypus ist der englische Name des Schnabeltiers.