Karl Reitter im Gespräch über Grundeinkommen und Marxismus

»Grundeinkommen bedeutet Umverteilung«

Der Sozialwissenschaftler und marxistische Autor Karl Reitter ist Dozent für Sozialphilosophie an der Universität Wien. Er war Mitglied der Redaktion der Zeitschrift »Grundrisse«. Mit der »Jungle World« sprach er über das emanzipatorische Potential eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Am 5. Juni wird in der Schweiz über ein bedingungsloses Grundeinkommen abgestimmt. Was sagen Sie zu dem Vorschlag?
Das wichtigste ist, dass zum ersten Mal, ich glaube weltweit, ernsthaft über ein Grundeinkommen abgestimmt wird. Es gibt Umfragen, die sagen, dass bis zu 30 Prozent dafür stimmen werden, in den französischsprachigen Gebieten sogar noch mehr. Alle gehen davon aus, dass dieser Vorschlag abgelehnt wird, aber angenommen, nur 25 Prozent stimmten für den Vorschlag, dann wäre das schon ein großer Erfolg. Diese Forderung ist damit auf der politischen Agenda.
In der Schweiz scheint die Wirtschaft gespalten: Der Wirtschaftsdachverband Economie Suisse macht gegen das Grundeinkommen mobil, einzelne Unternehmer wie Albert Wenger vom Investmentfond Union Square Ventures befürworten den Vorschlag. Wie erklären sie sich das?
Von Spaltung kann überhaupt keine Rede sein, das ist eher ein Verhältnis von 0,5 zu 99,5 Prozent. Empirisch stimmt diese Beschreibung auch nicht. Es gibt immer Ausnahmen. Götz Werner (deutscher Unternehmer, prominenter Verfechter des Grundeinkommens, Anm. d. R.) beispielsweise ist eigentlich auch Anthroposoph, sein Menschen- und Weltbild ist in dem Fall nicht neoliberal motiviert. Neoliberale Kräfte, die für das Grundeinkommen sind, muss man wirklich mit der Lupe suchen. Der Mainstream sagt: »Seid ihr verrückt, Geld ohne Arbeit zerstört die Wirtschaft!«. Und auch die Sozial- und Realpolitik geht in die gegenläufige Richtung. Sozialtransfers werden immer mehr an Bedingungen gebunden.
Offenbar ist das eine Prozent der Unternehmer, das ein Grundeinkommen unterstützt, aber für Kapitalisten innovativ. Wenger etwa will mit dem Grundeinkommen »ein Umfeld schaffen, in dem Innovationen möglich sind«. Yanis Varoufakis sagt, ein Grundeinkommen sei das größte vorstellbare »Unternehmensgründungs-Förderprogramm«.
Das mag schon sein. Ein Grundeinkommen bedeutet aber hauptsächlich eine massive Umverteilung, über den Daumen zwanzig bis dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den europäischen Ländern. Das ist nicht wenig. Durch eine solche Umverteilung würde auch die Massenkaufkraft steigen.
Das Entscheidende ist doch, und das ist der linke Kern des Grundeinkommens: Die Grundinstitution des Kapitalismus ist der Zwang zur Lohn - und Erwerbsarbeit, das ist der Nabel der ökonomischen Welt. Wenn ich – und das ist jetzt orthodox marxistisch – die Grundinstitution, die Form der Arbeit angreife, dann bin ich auf der Ebene ­einer revolutionären Politik. Was heißt revolutionäre Politik? Sie heißt Formkritik, bei Marx geht es ja nicht um Gerechtigkeit und Gleichheit.
Marxistische Kritik an Grundeinkommen bemängelt, dass ein Grundeinkommen die Verfügung über und den Besitz der Produktionsmittel nicht verändere und die bestehende Produktionsweise anerkenne.
Entscheidend ist nach wie vor der Status des Proletariats. Das ist ja kein empirischer Begriff, sondern ein abstrakter Relationsbegriff. Wird der Zwang zur Lohnarbeit durch ein echtes bedingungsloses Grundeinkommen aufgehoben, ist die kapitalistische Vergesellschaftung erschüttert. Ein weiterer Aspekt ist die Aneignung der Produktivkräfte, das ist eine schwierige Frage. Es ist richtig, dass in der Debatte über das Grundeinkommen diese Frage nicht thematisiert wird, aber wer thematisiert sie denn wie? Was haben die linken Kritiker denn da zu bieten? Was heißt »Aneignung der Produktionsmittel«? Als Forderung kann man das leicht sagen, aber wie soll das konkret umgesetzt werden? Ich bin kein Gegner von Verstaatlichungen, aber ist das der Königsweg? Die Kritiker haben da eine argumentative Bringschuld.
Ein anderer Einwand, den die Gruppe »Wege aus dem Kapitalismus« in einem Beitrag für die Jungle World erhoben hat ist, dass der Sozialstaat im Postfordismus in die Krise gekommen ist und schlicht kein Existenzgeld mehr finanzieren könne.
Finanzierbar ist das selbstverständlich. Ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts kann umgewälzt werden. Das Grundproblem ist, dass sich die Steuerpolitik in entgegengesetzter Richtung entwickelt. Die Körperschaftssteuern sind in Europa gesenkt worden, die Mehrwertsteuersätze heraufgesetzt, die Erbschaftssteuer fast abgeschafft. Das Problem ist nur, dass derzeit auch den bürgerlichsten Ökonomen und Finanzministern klar geworden ist, dass durch diese Situation große Konzerne nicht nur de facto keine Steuern zahlen, sondern zum Teil sogar noch Gutschriften bekommen. Das bringt auch die Finanzierung der bürgerlichen Staaten in Schwierigkeiten. Eine weitere Forderung, flankierend zum Grundeinkommen, wäre daher, dass man es nicht länger zulassen kann, dass die großen Unternehmen quasi keine Steuern mehr zahlen. Ein Grundeinkommen würde also auch einen mas­siven Eingriff ins Steuerrecht erfordern. Es wird manchmal von Grundeinkommensbefürwortern behauptet, man könne das Grundeinkommen sozusagen zum Nulltarif bekommen, aber das ist unmöglich. Die Ausgaben der österreichischen Mindestsicherung machen ein Hundertstel aus im Vergleich zu den Ausgaben für ein Grundeinkommen. Man kann Ausgaben gegenrechnen, Studienbeihilfe, Familienbeihilfe, all das braucht man bei einem Grundeinkommen nicht, man braucht keine Mindestsicherung oder Hartz IV, aber letztlich sind die derzeitigen Sozialausgaben nicht so hoch.
Die Gewerkschaften in der Schweiz beklagen, dass die Löhne durch ein Grundeinkommen sinken würden.
Das hat eine gewisse Ironie. Wir haben Niedriglohnsektoren, prekäre Arbeitsverhältnisse, Aushöhlung der gewerkschaftlichen Rechte, das alles auch ohne Grundeinkommen. Wenn es eingeführt würde, würde es genau das Gegenteil bewirken. In der Debatte sagen die einen, alle würden sofort ihren Arbeitsplatz verlassen und die Wirtschaft würde zusammenbrechen. Andere behaupten, das würde zu ökonomischen Innovationen führen, die Leute könnten Projekte machen, Kleinunternehmer werden, sie könnten gutfinanzierte Kita-Gruppen machen.
Die einzige Antwort ist wahrscheinlich, dass beides der Fall sein wird. Auch bei der Lohnentwicklung. Einerseits gibt es Leute, die ihre Tätigkeit schon jetzt oft umsonst ausüben, weil es sie einfach interessiert; mit einem Grundeinkommen fällt das ihnen leichter. Umgekehrt wird es Jobs geben, bei denen die Leute sagen werden: »Für das Geld mach ich das nicht mehr«. Die Verhandlungsmacht würde dann bei den Individuen selbst liegen. Die Gewerkschaften haben Angst vor noch mehr Verhandlungsmacht. Nicht unterschätzen sollte man auch das Thema der Würde am Arbeitsplatz. Durch die Sockelarbeitslosigkeit gibt es eine Demütigung am Arbeitsplatz und die Leute können sich nicht oder sehr schwer wehren. Was soll die Sekretärin denn machen bei sexueller Belästigung? Sie kann kündigen, aber wenn die Alternative Mindestsicherung oder Hartz IV ist, ist das nicht so leicht. Die Gewerkschaften müssen sich eingestehen, dass sie in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren eine massive, für jeden sicht­bare Verschlechterung der Situation der Werktätigen in Europa nicht verhindern können. Sie haben sie vielleicht etwas bremsen oder je nach Land abmildern können, in Österreich etwas mehr, in England etwas weniger. Prinzipiell aber haben sie der Umwälzung der Neoliberalismus nicht wirklich etwas entgegensetzen können und trotzdem wird business as usual gemacht. Die Neokeynesianisten reden wie 1975 und fordern Arbeitszeitverkürzung und neuerdings eben den Mindestlohn. Eine klassische Kritik war ja: »Wir brauchen kein Grundeinkommen, sondern Arbeitsplätze, weil das dem Menschen Identität und Selbstbewusstsein gibt«. Diese Kritik ist »seltsamerweise« verschwunden, weil die gesellschaft­lichen Verhältnisse sie ad absurdum geführt haben. Was ist mit der Identität in prekären Jobs? Die Leute sagen: »Ich mache das hier vorläufig« oder »ich will eigentlich was anderes machen«. Aber wenn das zur einer gesellschaftlichen Massenerfahrung wird, dann zerbröselt dieses Argument.
Sie verstehen das Grundeinkommen als eine Übergangsforderung?
Ich sage es gerne und immer wieder: Die Diskussion über ein Grundeinkommen hat sich ziemlich synchron ergeben zur Entwicklung des Neoliberalismus. Im Fordismus bis 1975 hat das niemand gefordert, aber nachdem die neoliberale Umwälzung die Gesellschaft und die Lebensverhältnisse verändert hat, ist die Forderung nach einem Grundeinkommen entstanden. Wie Marx gesagt hat, nicht nur der Gedanke muss zur Wirklichkeit, sondern auch die Wirklichkeit zum Gedanken drängen und genau das ist passiert. Die gesellschaftliche Entwicklung selbst rückt das Grundeinkommen auf die Agenda. Wir haben keine historische Erfahrung mit der Überwindung des Kapitalismus hinsichtlich der Form. Mein Punkt ist: Der Einstieg in den Ausstieg aus dem Kapitalismus muss an der unmittelbaren Lebenssituation der Menschen ansetzen. Diese unmittelbare Lebenssituation ist das ökonomische Auskommen: Wovon lebe ich? Was muss ich tun, damit ich in Würde leben und überleben kann? Das Grundeinkommen ist dazu der zentrale Hebel. Aber darüber gibt es keine Erfahrung. Die Bolschewiki haben sich 1917 auch nicht vorgestellt, wie Russland 1930 aussehen würde. Bei linken Kritikern des Grundeinkommens amüsiert und ärgert mich manchmal die Vorstellung, es gäbe eine Forderung, die unabdingbar emanzipatorisch ist und unter allen gesellschaftlichen Bedingungen. Wer so denkt, sollte aufhören politisch zu denken. Jede Forderung kann nach rechts gedreht werden, und das gilt auch für das Grundeinkommen.