Vietnam im politischen und gesellschaftlichen Wandel

Kleine und große Fische

Die Ökonomie und die Sozialstruktur Vietnams durchlaufen einen rasanten Wandel. Die Nationalversammlung wurde neu besetzt, es gab eine Umweltkatastrophe vor der Küste und das Land nähert sich an die USA an. An den politischen Machtstrukturen ändert das aber wenig.

Am 22. Mai wurde in Vietnam die Nationalversammlung gewählt, große Veränderungen dürften sich aber nicht ergeben. Die Wahlbeteiligung von 98,77 Prozent liest sich eher als Ausdruck einer Struktur, die politische Gleichgültigkeit fördert und fordert. Symbolisches Einvernehmen wird mit sanftem Druck eingeholt und drückt kaum ein alle ergreifendes Interesse an der Zusammensetzung der Nationalversammlung aus.
Einen Tag vor der Wahl mit dem Taxi auf dem Weg aus der etwas glanzlosen Hafenmetropole Hai Phong nach Hanoi: In der Peripherie der vietnamesischen Hauptstadt riecht es nach der typischen Mischung aus Nässe, dem Rauch abgebrannter Stoppelfelder sowie Milchblütenbäumen. Die wichtigste olfaktorische Komponente bilden indes die Abgase von über fünf Millionen Mopeds. Neu ist eine imposante Wohnbausiedlung, deren Charme zwischen dem von Hong Kong und Berlin-Marzahn schwankt. Viele Vietnamesinnen und Vietnamesen, die in der Mittelschicht angekommen sind, wollen in einer solchen Siedlung leben, da die Wohnungen als sauber, ruhig und modern gelten. Nur sei die Bereitstellung der Fahrstühle problematisch, denn Mütter und Dienstmädchen würden darin unentwegt zur Beruhigung ihrer Kinder spazieren fahren, erklärt mir meine Begleitung.
Der Taxifahrer macht einen Zwischenstopp, um jemandem etwas zu übergeben. Man hört den knarzigen Klang öffentlich angebrachter Lautsprecher, gegen den Verkehrslärm werden Biographien von Kandidatinnen und Kandidaten verlesen, die zur Wahl der XIV. Nationalversammlung am 22. Mai nominiert sind. Der Fahrer ist ein sympathischer Typ Ende 30 mit dezenten Selfmade-Tattoos und trainierten Oberarmen. Konsequent beginnt er jeden Satz mit »Đit me mày« (Fick deine Mutter). Ans Steuer zurückgekehrt erzählt er, dass man bei ihm im Bezirk bisher für die Stimmenabgabe 20 000 vietnamesische Dong (VND, rund 80 Cent) und ein Handtuch erhielt. Auf die Frage, ob die Handtücher einen roten Stern oder ähnliche Spezifika aufweisen, antwortet er, dass es schlichte weiße Lappen sind. 20 000 VND und ein Handtuch seien nicht genügend Anreiz für ihn, zur Wahl werde er nicht gehen, zumal seiner Meinung nach das Ergebnis ohnehin feststehe.
Später erklären mir vietnamesische Freunde, dass die eigentliche Funktion der Handtücher darin liege, sie zu einem Stückpreis von ungefähr 5 000 VND einzukaufen, aber zum vierfachen Preis abzurechnen. Die Differenz stecke sich jemand im Wahlbüro in die Tasche. Am Tag darauf kehren selbige Freunde aus einem der landesweit 91 000, mehrheitlich bunt dekorierten Wahllokale nicht mit Handtüchern, sondern mit ihren Wahlzetteln zurück. Bevor sie ihre Kreuze machen, wollen sie zuerst im Internet nachsehen, wer die Kandidaten sind.
Wahlen ohne Überraschungen
Lokalverwaltungen mögen unterschiedlich rigide sein, aber grundsätzlich tut man gut daran, zur Wahl zu gehen – andernfalls macht man sich verdächtig. Immerhin zieht die Regierung alle Register, um die Wählerschaft zu motivieren: Vor der Parlamentswahl sind entlang aller Hauptstraßen auffällige rote Banner mit Motiven Ho Chi Minhs und dem Datum der Wahlen aufgespannt und Kader statten in ihren Wahlkreisen Hausbesuche ab. Am Wahlsonntag wird die Nachbarschaft ab sechs Uhr morgens mit patriotischen Liedern beschallt und sämtliche Netzanbieter schicken ihren Kunden via SMS Wahlerinnerungen.
Die Öffentlichkeit sollte zwar über die Wahl informiert sein, aber keinesfalls eine unabhängige Debatte darüber führen. Die Regierung drohte, Facebook-Accounts zu sperren, sollten sich dort in irgendeiner Form Äußerungen zur Wahl finden. Um ihr Monopol bei der Nominierung der Kandidaten brauchte die Kommunistische Partei (KP) indes nicht fürchten: Gerade einmal elf der 870 Kandidatinnen und Kandidaten waren unabhängig registriert, alle anderen waren von der KP aufgestellt worden. Dass die »unabhängigen« Kandidaten zugelassen worden wären, hätten sich ihre Positionen von denen der KP unterschieden, wird von vielen bezweifelt. Einschneidende politische Veränderungen versprachen sich deshalb nur die wenigsten Wahlberechtigten von der Wahl.
Das entscheidende politische Korrektiv bildet nicht das Votum der Wähler, sondern das Wirtschaftswachstum und dessen Verteilung. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass nach 30 Jahren Krieg in Vietnam 1975 eine ökonomische Rezession folgte, die für große Teile der Bevölkerung eine Verschlechterung ihrer ohnehin schwierigen Lage zur Folge hatte. Unter diesen Bedingungen wurde 1986 Doi Moi (Erneuerung) eingeführt, eine Politik der sozialistischen Marktwirtschaft. Unter ihr und mit der Lockerung wirtschaftlicher Sanktionen der USA begann sich das Land in den neunziger Jahren sehr mühsam von der Rezession zu erholen. Die sich über Generationen erstreckenden kollektiven Erfahrungen von Krieg und Armut tragen dazu bei, dass regierungskritische Stimmen eine unterdrückte Minderheit bleiben, solange die Mehrheit Stabilität und eine Verbesserung der ökonomischen Situation verspürt.
Die Parteiführung ist sich dessen bewusst. Dementsprechend richtet sie ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik aus: Dass die Mittelschicht wächst, ist in allen sozialen Bereichen genauso wie an der Infrastruktur sichtbar. 2010 galten der Weltbank zufolge noch über 20 Prozent der Bevölkerung als arm, in nur vier Jahren sank dieser Anteil auf 13,5 Prozent.
Freilich bleiben bei diesen Entwicklungen einige außen vor. Vor zehn Jahren begegnete ich an Hanois zentral gelegenem Hoan-Kiem-See das erste Mal einer Frau, die auf der Straße Kaugummis verkaufte. Eine hagere Person in abgerissener Kleidung, die vermutlich an Parkinson litt. Bei unserer ersten Begegnung wollte ich ihr mehr Geld geben, aber die Differenz warf sie mir wütend hinterher – Almosen wollte sie nicht. Heutzutage verkauft sie dort immer noch Kaugummis. Ihre soziale Stagnation ist nicht untypisch. Die, denen es in den neunziger und nuller Jahren nicht gelungen ist, der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen, scheinen dies heute, in einer ökonomisch weiter entwickelten und dynamisierten Gesellschaft, noch weniger zu können. Allerorten sieht man Menschen, die auf Müllhalden nach Verwertbaren suchen, auf der Straße Lotterielose verkaufen oder als Tagelöhner auf Baustellen die Ziegel auf dem Rücken nach oben schleppen.
Der Fisch stinkt
In der reziproken Proportionalität von Wahlbeteiligung und politischer Partizipation sowie der Tatsache, dass bei einigen Gruppen der Wohlstand stark wächst, während die ökonomische Entwicklung vielerorts stagniert, spiegeln sich wesentliche Merkmale der gegenwärtigen vietnamesischen Gesellschaft. Das gilt auch für zwei Ereignisse, die mehr als die Wahlen das öffentliche Interesse in den vergangenen Wochen weckten.
Zum einen betraf das eine Umweltkatastrophe vor der Küste Vietnams. Dabei wurden zuerst an den Ufern bei Ha Tinh und schließlich an einen Küstenstreifen von über 200 Kilometern Länge Anfang April mehrere Millionen Fische und andere maritime Lebensformen, von Schalentieren bis hin zu Walen, tot angeschwemmt. Hunderte Menschen erlitten nach dem Verzehr von Fisch Vergiftungen und auch der Tod eines Industrietauchers wird mit der Katastrophe in Verbindung gebracht. Als Verursacher gilt der Bevölkerung eine Industrieanlage des taiwanesischen Unternehmens Formosa Ha Tinh Steel Company. Selbiges hatte kurz zuvor 200 Tonnen hochtoxische Chemikalien ins Meer geleitet. Seit Beginn der Katastrophe versucht die Regierung, die Öffentlichkeit über die Ursachen des Fischsterbens im Ungewissen zu lassen. Schlechte Arbeit seitens öffentlicher Stellen könnte hierfür ein Motiv sein. Es ist davon auszugehen, dass bei der Genehmigung der Einfuhr der Chemikalien die ökologischen Konsequenzen nicht bedacht oder bewusst in Kauf genommen wurden.
Als Formosas Vorsitzender der Abteilung für Außenbeziehungen, Chu Xuan Pham, in einem Interview Ende April erklärte, dass sich Vietnam zwischen seinen Fischbeständen und moderner Stahlindustrie entscheiden müsse, zog er sich und dem Unternehmen den kollektiven Zorn zu. Bei einer mit der Bundesrepublik vergleichbaren Fläche verfügt Vietnam über eine mehr als 3 000 Kilometer lange Küstenlinie und der Fischfang spielt eine kaum zu überschätzende ökonomische Rolle. Küstenregionen in allen Landesteilen profitieren zudem erheblich vom nationalen und internationalen Tourismus an ihren Stränden. Wenn Sprecher ausländischer Firmen erklären, dass Vietnam zugunsten der Modernisierung auf seine Fischbestände verzichten müsse, fühlen sich viele Vietnamesinnen und Vietnamesen in ihrer Lebensgrundlage und -qualität bedroht.
In Hanoi, Hue und Ho-Chi-Minh-Stadt kam es Ende April und Anfang Mai daher zu Demonstrationen mit Hunderten Teilnehmern gegen die Verschleierung der Ursachen, die Fahrlässigkeit bei der Überprüfung potentieller ökologischer Schäden und eine Regierungspolitik, die nationale Belange vermeintlich hinter die Interessen ausländischer Investoren stellt. Auf Schildern, Transparenten und natürlich Facebook-Seiten wurde das Motto »Tôi Chon Cá« (Ich wähle Fisch) verbreitet. Die Regierung reagierte in gewohnter Manier: mit Repression. Höhepunkt bisher waren 300 Festnahmen bei einer Demonstration in Ho-Chi-Minh-Stadt am 15. Mai. 30 Inhaftierte blieben über mehrere Tage in Haft. Das Recht, mit Familienangehörigen oder einem Rechtsbeistand Kontakt aufzunehmen, wurde ihnen verwehrt. Später berichteten sie Amnesty International zufolge von Verletzungen, die man ihnen mit Schlagstöcken und Elektroschockgeräten während der Festnahmen und der Verhöre zugefügt habe. Die Regierung wiederum ließ in Medien verlautbaren, dass Umweltbewusstsein an sich eine gute Sache sei, die Proteste aber von »Terroristen« gesteuert seien, deren Ziel darin bestehe, die Regierung zu stürzen.
Während die Regierung die ökologische Katastrophe nutzte, um ihre Gegner aus dem Verkehr zu ziehen, bleiben die Folgen vielerorts sichtbar. Beispielsweise in der über 400 Kilometer südlich von Ha Tinh gelegenen Millionenstadt Da Nang, die über lange Strände und unzählige Fischrestaurants verfügt. Seit Ende April werden hier vermehrt tote Fische an die Ufer gespült. Die lokale Stadtverwaltung reagierte abwiegelnd: Das Meer ließ sie auf Schwermetalle untersuchen und erklärte schließlich, dass sich die Messwerte im erlaubten Bereich bewegten. Führende Kader gingen demonstrativ schwimmen und Fisch essen.
Über den Eingängen zum Cho-Han-Markt sind Spruchbänder montiert, die beteuern, dass der hier angebotene Fisch sicher sei. Über zwei Wochen lang stehen allabendlich auf einem Festival zur Bewerbung von Meeresfrüchten an der Strandpromenade lokale Schlagergrößen oder Vertreter von Weltmusik auf der Bühne. Davor sind in einem Halbrund Spezialitätenstände aufgebaut, aber die Plastikstühle dazwischen bleiben weitestgehend leer. Einhellig haben mir Freunde davon abgeraten, Fisch zu essen. Der Manager eines Strandressorts erklärt hingegen, dass der Skandal sein Geschäft nicht störe, da die meisten seiner Kunden aus Korea kämen und man dort nichts davon wisse.
Am 26. April meldeten vietnamesische Medien, dass Formosa seinen PR-Mann gefeuert hat, das Unternehmen weigert sich aber, die Verantwortung für das Desaster zu übernehmen. Die Regierung verfolgt weitere Untersuchungen nur schleppend, die Strände werden aufgeräumt und in einem halben Jahr dürfte alles vergessen sein.
Obama bittet zu Tisch
Das andere Ereignis, das die nationalen Befindlichkeiten illus­trierte, war der Besuch von US-Präsident Barack Obama. Seit dem Moment seiner Ankunft gingen Hunderte von Videos online, die seine Fahrzeugkolonne in Hanois Straßen zeigen, auf beiden Seiten gesäumt von Menschenmassen, die vietnamesische und US-amerikanische Fahnen schwenken. Wenige Tage zuvor war in vietnamesischen Kinos der neue Teil der Actionserie »Captain America« angelaufen, so waren viele Kinder mit adäquaten Accessoires ausgerüstet.
Der US-Präsident plauderte charmant mit vietnamesischen Studenten über HipHop, ging in einem gewöhnlichen Straßenlokal essen und zeigte sich als interessierter Besucher des Holzhauses Ho Chi Minhs. In seiner Rede griff er die Unabhängigkeitserklärung von Ho Chi Minh aus dem Jahr 1945 auf, in der dieser Thomas Jefferson zitierte. Lange hatte Ho Chi Minh in den USA erfolglos einen Verbündeten gesucht und fast bekommt man heutzutage den Eindruck, als hätte man dort sein Anliegen nun zum ersten Mal vernommen.
Wichtiger als die als Fortsetzung der Annäherung alter Kriegsparteien, die bereits unter der Amtszeit Bill Clintons begann, ist die ökonomische und vor allem militärische Allianz zwischen den USA und Vietnam, die durch dieses Treffen gestärkt wird. Die USA waren bereits in den vergangenen Jahren der wichtigste Außenhandelspartner Vietnams. Neu ist, dass das vietnamesische Militär sein Arsenal nun bei US-amerikanischen Unternehmen aufstocken kann. Vermutet wird, dass die USA im Gegenzug bald den Hafen in der Stadt Phan Rang als Marinestützpunkt nutzen dürfen.
In ihrer Annäherung schauen sowohl Vietnam als auch die USA in Richtung China. Beide Länder haben erhebliches Interesse daran, die chinesische Expansion im pazifischen Raum zu behindern. So ist die sich festigende Partnerschaft vor allem dem gemeinsamen Rivalen zu verdanken. In einem solchen politischen Klima bestand wenig Grund für Obama, die Themen Demokratie und Menschenrechte deutlich anzusprechen.
Stunden vor der Ankunft des US-Präsidenten sitze ich auf Einladung einer Freundin in dem Hotel in Hanoi, in dem Obama übernachten soll. Einige Bereiche sind bereits mit Bändern mit dem Aufdruck »Police line – do not cross« abgesperrt, dahinter parken schwarze Limousinen. Durch die großen Fensterscheiben des Hotels sind künstliche Wasserlandschaften und weiter entfernt die Skyline zu sehen. Vor zwei, drei Jahren gab es dort nur eine staubige Ausfallstraße. Eine Band spielt dezente Musik und ein Kellner macht mit einem Smartphone ein Foto von unserer Gruppe. Mit uns am Tisch ist ein Mann mittleren Alters. Er vertreibt für eine deutsche Firma Pumpen, zuvor habe er für Mercedes-Benz gehandelt. Unsere Gastgeberin arbeitet an der Universität. Weil ihre Karriere dort stagniert und sie zudem mit einem Funktionär verheiratet ist, muss sie nun in die KP eintreten. Für eine Rechnung, die ungefähr das Doppelte des durchschnittlichen vietnamesischen Monatseinkommens beträgt, spendiert sie ein hervorragendes Abendessen.
In der Küche Vietnams hinterließ der Besuch Obamas Spuren: In einigen Restaurants wird neuerdings, entsprechend einer Bestellung des Präsidenten, ein Obama-Menü angeboten: Bun-Cha-Fleischbällchen, Nudeln und Bier.