Der Bezug von Sozialleistungen in Deutschland soll EU-Bürgern erschwert werden

Rückkehroption statt Sozialhilfe

Nach Ansicht des Bundessozialgerichts steht auch EU-Ausländern in Deutschland Sozialhilfe zu. Doch zahlreiche Gerichte ignorieren diese Entscheidung. Und die Bundesregierung arbeitet an einem Gesetz, das den Bezug der staatlichen Leistungen entscheidend erschweren soll.

»Freizügigkeit in Europa ist für grenzenloses Arbeiten oder Studieren gedacht, nicht zum Wechsel in das beste Sozialsystem«, sagte Günther Oettinger (CDU) Anfang Juli der Bild-Zeitung. »Deshalb bin ich dafür, dass nur derjenige EU-Ausländer Sozialhilfe bekommt, der zuvor eine bestimmte Mindestzeit in dem betreffenden Land gearbeitet hat.«
Oettinger ist zwar EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Er scheint aber durchaus zu wissen, was in Deutschland seit einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) verstärkt für Unmut sorgt. 440 000 EU-Ausländer beziehen der Bundesagentur für Arbeit zufolge zurzeit Hartz IV oder Sozialhilfe. Ende 2015 bestätigte das Bundessozialgericht (BSG) einerseits, dass EU-Ausländer mit Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche oder gänzlich ohne besonderes Aufenthaltsrecht keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II) haben. Das BSG sprach andererseits den betroffenen rumänischen, schwedischen und griechischen Staatsbürgern – und mittlerweile auch Staatsangehörigen weiterer EU-Staaten – zur Sicherung ihres Existenzminimums Sozialhilfe zu. Diese wird grundsätzlich in gleicher Höhe wie ALG II gewährt. Der Pflichtenkanon für Sozialhilfeempfänger ist kleiner als für ALG-II-Bezieher und die behördlichen Sanktionen sind schwächer. Dafür ist das Schonvermögen geringer, also das Vermögen, das der Leistungsempfänger nicht dazu verwenden muss, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Volkes Zorn über diese vermeintliche Großzügigkeit des BSG war erwartbar. Als einer der ersten verschaffte ihm der Spiegel unter der Überschrift »Seid umarmt, Ihr Rumänen!« Gehör: »Tatsächlich scheinen Nation und staatliche Einheit für die BSG-Richter zu jenen Kategorien zu gehören, die so überholt sind wie Lavalampen.« Die FAZ sorgte sich wegen »Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer«. Die SZ erklärte, »warum nicht alle EU-Bürger in Deutschland Sozialhilfe bekommen sollten«.
Die Urteilsbegründung des BSG war noch nicht veröffentlicht, da wandte sich auch schon eine Kammer des Sozialgerichts (SG) Berlin gegen das BSG und versagte einem Kläger neben ALG II auch die Sozialhilfe. Das SG präsentierte die Entscheidung der Öffentlichkeit mit unverkennbarem Stolz, nämlich in zwei Pressemitteilungen und mit Verweis auf den Spiegel-Artikel. Nur wenig später sah sich auch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg genötigt, EU-Bürgern das Existenzminimum vorzuenthalten. Der für seine Konsequenz bei der Versagung von ALG II berühmt-berüchtigte 29. Senat verlieh seiner Entscheidung aber noch eine besondere, Schule machende Note: Er qualifizierte einen Sozialhilfeanspruch in diesen Fällen als so abwegig, dass er den Eilrechtsschutzsuchenden nicht einmal Prozesskostenhilfe zur Bezahlung des Anwalts gewährte – ein Anspruch besteht nach dem Gesetz schon bei Annahme kleinster Erfolgsaussichten. Mittlerweile haben zahlreiche Gerichte gegen das BSG entschieden und arbeitslosen EU-Bürgern die Sozialhilfe verwehrt. Führend bleibt dabei das SG Berlin mit etlichen Entscheidungen, allein acht sind veröffentlicht.
Die Gerichte sind, abgesehen von abstrakten Rechtssätzen des Bundesverfassungsgerichts, nicht an die Rechtsprechung der Bundesgerichte gebunden. Aber Abweichungen sind selten, noch seltener in dieser Zahl, allein schon deshalb, weil es Arbeit spart, auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verweisen. Dass den Richtern gerade diese Fälle die Mühe wert sind, spricht dafür, dass sie eine Mission verfolgen. Entscheidend ist zudem, dass die revoltierenden Gerichte Leistungen verwehrt haben, ohne die Fälle beim Bundesverfassungsgericht vorzulegen und bestehende Gesetze als verfassungswidrig feststellen zu lassen. Sie gehen also letztlich davon aus, dass den EU-Ausländern so oder so kein Existenzminimum zusteht.
Dabei sind die Entscheidungen des BSG keinesfalls Dokumente purer EU-Ausländerfreundlichkeit. Abgesehen davon, dass beispielsweise das Interesse der Arbeitgeberverbände an Ausländern auch auf die Vergrößerung der natio­nalen Reservearmee an Arbeitslosen zielt, hat das BSG auch die Trennung zwischen guten und schlechten Ausländern in seine Urteile aufgenommen: Es sei Aufgabe der Ausländerbehörden, die Ausreisepflicht von EU-Bürgern anzuordnen. Entgegen der landläufigen Meinung, dass sich EU-Bürger bedingungslos überall in der EU aufhalten können, wäre eine solche Anordnung theoretisch möglich, wenn wie in den Sozialhilfefällen keine speziellen Aufenthaltsrechte greifen oder das Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche entzogen wird. Doch die Ausländerbehörden haben derzeit andere Abschiebungen zu erledigen.
Außerdem sind Abschiebungen von EU-Bürgern bisher nicht besonders wirksam, weil es keine dauerhafte deutsche Grenzsicherung und dementsprechend die Möglichkeit zur Wiedereinreise gibt. Abschiebungen in großem Maßstab dürften derzeit wegen ihrer Symbolik nicht im Interesse deutscher Standortpolitik sein. Diese muss sich um den Erhalt des europäischen Binnenmarkts kümmern. Dieser Markt basiert auch auf Freizügigkeit.
Dass dies dennoch nicht die provokante Wirkung der BSG-Urteile auf Juristen entschärfen konnte, dürfte auch an der extensiven Auslegung des Begriffs der Menschenwürde und des daraus abgeleiteten Rechts auf ein Existenzminimum liegen. Leistungen ohne Gegenleistungen als Rechtsanspruch, noch dazu an Ausländer – das ist auch für den juristischen Menschenverstand nur schwer zu ertragen. So ist ein wiederkehrendes Argument in Gerichtsentscheidungen die sogenannte Rückkehr­option, die nichts anderes bedeutet als die Aufforderung: »Geht doch nach Hause!« Zudem wird das BSG wegen verfassungswidriger Ungleichbehandlung zu Lasten deutscher ALG-II-Empfänger kritisiert, weil diese in vergleichbarer Situation dem strengeren Sanktionsregime unterliegen.
Volkes Stimme erklingt nicht nur in Gerichten, sondern auch in der Bundesregierung. Ende April legte Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) einen Gesetzentwurf vor, der den Sozialhilfebezug von EU-Ausländern verhindern soll. Das Gesetz soll noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Ob es verfassungsgemäß ist? Das dürfte nur eine Frage der Aus­legung sein.