Russlands Verhältnis zur Nato ist ambivalent

Russland macht sich locker

Die russischen Reaktionen auf die Beschlüsse des Warschauer Nato-Gipfels sind deutlich. Die neuerlichen Truppenstationierungen im Baltikum werden als Aggression kritisiert und verurteilt. Doch die Abschreckungspolitik der Nato nützt Putin auch.

Was wäre die Nato ohne Russland? Sie müsste sich vermutlich eine andere Rechtfertigung für ihre Existenz suchen, die sich eigentlich bereits mit dem Ende des Kalten Kriegs erübrigt hatte. Diese Reaktionen sind in Russland nichts Neues. Durch das Nato-Gipfeltreffen in Warschau gewinnen sie erneut an Aktualität. Die Nato kämpfe nicht gegen reale Bedrohungen, sondern gegen fiktive, kommentierte der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten in der Staatsduma, Aleksej Puschkow, die Entscheidung zugunsten einer dauerhaften Stationierung von Nato-Truppen in Polen und den baltischen Staaten. Russland stelle für keinen einzigen Mitgliedstaat des Militärbündnisses eine Bedrohung dar. Bemühungen, die aktuelle Lage in der Ukraine mit der russischen Einmischung zu erklären, seien der Versuch, eine Bedrohung künstlich zu schaffen.
Bereits vor dem Gipfel äußerte der russische Nato-Botschafter Aleksander Gruschko, dass Russland sich einer Konfrontationslogik ausgesetzt sehe, an der im Kreml kein Interesse bestehe. Aber das Vorgehen der Nato könne nicht unbeantwortet bleiben und veranlasse die russische Seite zu Gegenmaßnahmen. Er bedauerte, dass es gegenwärtig keine positive Agenda gebe, was einem partnerschaftlichen Dialog deutlich im Wege stehe. Der russische Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow hingegen stellte nüchtern fest, dass seinerzeit im Nato-Hauptquartier niemand ernsthaft damit gerechnet habe, in naher Zukunft seine militärischen Verpflichtungen gegenüber osteuropäischen und insbesondere den baltischen Staaten in der Praxis einzulösen. Nun jedoch müssten leichtfertige Versprechen gegenüber diesen Partnern erfüllt werden, auch wenn Russland an das Militärpotential der Sowjetunion nicht heranreiche. Trotz Abschreckungsrhetorik, die stellenweise an vergangene Zeiten erinnere, rechnet er mit einem moderaten Vorgehen der Nato, wozu er auch die nun beschlossene Truppenstationierung zählt. Gleichzeitig ließe sich mit einer Neuauflage vermeintlicher Bedrohungen aus Moskau nicht jene Krise kaschieren, in der sich die Nato aufgrund unzeitgemäßer Strukturen angesichts neuer Herausforderungen befinde.
Für das eigene Sicherheitsgefühl entscheidend ist das Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit der eigenen Armee. Einer Untersuchung des staatlichen russischen Meinungsforschungsinstitut VCIOM zufolge erfreut sich das russische Militär seit geraumer Zeit wachsender Beliebtheit. Hatten sich Anfang 2006 lediglich 32 Prozent der Befragten positiv darüber geäußert, sind es inzwischen über 80 Prozent. Immer mehr Russen sind davon überzeugt, dass Russland von außen bedroht werde, wobei fast 90 Prozent der Überzeugung sind, die russischen Streitkräfte seien in der Lage, das Land vor einer solchen Bedrohung gebührend zu schützen.
In Hinblick auf das Verhältnis zur Nato gehen die Meinungen auseinander, wie das nichtstaatliche Meinungs- und Sozialforschungsinstitut Lewada-Zentrum in einer Umfrage ermittelte. Knapp über die Hälfte der Befragten nimmt das Militärbündnis als Bedrohung wahr, etwas mehr als ein Drittel fühlt sich von dessen Mitgliedstaaten nicht bedroht. Auch im umgekehrten Fall herrscht keine Einigkeit. Etwa die Hälfte ist der Ansicht, die Nato habe keinen Grund, Russland als Bedrohung wahrzunehmen, während 39 Prozent das Gegenteil glauben. Die überwiegende Mehrheit ist an guten internationalen Beziehungen interessiert und spricht sich außerdem für eine Versöhnung mit der Ukraine aus.
Krieg ist im Bewusstsein der russischen Bevölkerung sehr präsent. Zum einen stellt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ein staatstragendes und die Nation wie kein anderes Thema verbindendes Element dar, zum anderen haben die von Russland geführten Kriege der vergangenen Jahrzehnte ihre Spuren hinterlassen: allen voran die beiden Tschetschenien-Kriege und die militärischen Auseinandersetzungen im Donbas. Auch der Einsatz russischer Streitkräfte in Syrien ist von Bedeutung, obwohl dieser sich propagandistisch nur mit Mühe ausschlachten lässt und in Russland auf weitaus weniger positive Resonanz trifft.
In der russischen Gesellschaft dominiert eine unkritische Haltung zu Einsätzen der eigenen Streitkräfte, die durch eine strategische mediale Darstellung begleitet werden. Um eine breite Akzeptanz zu schaffen, bedarf es nur einiger beharrlich wiederholter Zuschreibungen: Die russische Armee wird nur im Verteidigungsfall aktiv, kämpft für Gerechtigkeit, trägt zum Sieg bei und agiert im Notfall präventiv. Im Übrigen firmiert keiner der genannten militärischen Konflikte als »echter« Krieg, denn gekämpft wird zwar vor der eigenen Haustür, aber glücklicherweise reicht keiner in seinen Ausmaßen auch nur in Ansätzen an den »Großen Vaterländischen Krieg« heran. Weniger glorreiche Episoden sind in der Öffentlichkeit ohnehin Tabu, während die »grünen Männchen« auf der Krim, also Uniformierte ohne Militärabzeichen, als Inbegriff russischer Friedensbringer gelten.
Der russische Präsident Wladimir Putin machte immer wieder deutlich, dass in der Krim-Frage zwar an erster Stelle die Unterstützung der lokalen Bevölkerung gestanden habe, gleichzeitig habe Russland unter Handlungsdruck gestanden für den Fall, dass die Ukraine in die Nato in der für das Mi­litärbündnis eigenen Manier regelrecht hineingesogen werde. Die Ankunft von Nato-Schiffen in der russischen Heldenstadt Sewastopol käme emotional einer erneuten Niederlage im Kalten Krieg gleich. Aber der Präsident argumentiert vermeintlich rational und vergisst auch nicht zu erwähnen, dass die militärstrategische Bedeutung dieses Standorts für die russische Flotte nicht überbewertet werden dürfe. Vielmehr stellt er die Problematik in einen geopolitischen Kontext. Würde die Nato ihre modernen, schlagkräftigen Raketenanlagen dort platzieren, würde Russland automatisch aus dem Schwarzmeer-Raum hinausgedrängt, also aus einer für das Land bedeutsamen Region, für die Russland in den vergangenen Jahrhunderten gekämpft hat. Bei der Annexion der Krim handelte es sich demnach lediglich um eine Präventivmaßnahme gegen eine unvermeidlich erscheinende Nato-Osterweiterung.
Drohszenarien aufzuzeigen gehört zum Handlungsrepertoire des russischen Machtapparates und erweist sich insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten als effektives Steuerungselement. Der von einer überwiegenden Mehrheit positiv bewertete Großmachtstatus Russlands manifestiere sich in seiner militärischen Stärke und lasse sich, glaubt man diversen Umfragen, nicht an der Wirtschaftsleistung messen. Insofern trägt das zur Schau gestellte Drohpotential der Nato mit der Aufstockung von Truppen im Baltikum zur Festigung der inneren Stabilität Russlands bei und kommt zumindest in diesem Punkt dem Kreml durchaus entgegen. Dessen Sprecher Dmitrij Peskow betonte anlässlich des Gipfeltreffens in Warschau den »aggressiven Charakter« der Nato und Wladimir Putin stellte klar, Russland werde sich von diesem militaristischen Taumel nicht anstecken lassen.
Russische Nato-Gegner dürften sich vom Präsidenten mehrheitlich gut vertreten fühlen, insofern besteht selbst nach der beschlossenen Truppenaufstockung keine Notwendigkeit, eine Protestbewegung gegen das Militärbündnis ins Leben zu rufen. Kritik an der Nato von links findet in Russland kaum Gehör. Ilja Budraitskis, Publizist und Redakteur des Webportals openleft.ru, war dafür nach Warschau zum Gegengipfel geladen. Er kritisiert generell die zunehmende Militarisierung. »Der Kalte Krieg kommt ins Bewusstsein zurück, allerdings ohne seine vormaligen inhaltlichen Zuschreibungen«, sagte er der Jungle World. Die Nato profitiere trotz ungleicher Kräfteverhältnisse von Russlands Drohgebärden, wobei hier vor allem die Krim zu nennen sei. Er formuliert deutlich, was so mancher Linke im Westen nicht wahrnehmen will: »Es gibt keine wesentlichen programmatischen Unterschiede zwischen Russland und der Nato.«