Berlin Beatet Bestes. Folge 349. Türkei.

Der türkische Besuch bleibt länger

Die Nachricht vom Militärputsch in der Türkei erreicht uns am letzten Abend des Swing-Camps in Schweden. Zufällig wohnen zur gleichen Zeit türkische Freunde in unserer Kreuzberger Wohnung. Am nächsten Morgen wollen sie zurück nach Istanbul fliegen, aber alle Flüge sind abgesagt. Zehn Stunden später liegen wir uns in Berlin in den Armen. Sie sind völlig außer sich. Meine Freundin und ich auch. Der Putsch ist bereits gescheitert, aber die Lage bleibt unklar. Seit den Gezi-Park-Protesten hat Erdoğans Politik der kleinen Nadelstiche – der andauernden Bedrohung alltäglicher Freiheiten – Dilek und Erol zugesetzt. Nun scheint eine neue, noch krassere Phase der Repression auf sie zuzukommen.
Wir sitzen am Küchentisch und diskutieren. Erol ist pessimistisch: »Die jungen Leute in Istanbul machen sich alle etwas vor. Sie betäuben sich mit Netflix, Facebook und Pokémon. Aber es ist auch wirklich hoffnungslos. Erdogan ist jetzt mächtiger als jemals zuvor. Es geht alles den Bach runter.« »Stimmt doch gar nicht«, wirft Dilek ein. »Es gab so viele Proteste in den vergangenen Jahren. Denk an die Gezi-Park-Proteste!« »Ach was! Gezi war der größte Witz. Das hat doch überhaupt nichts gebracht. Dieses Land ist einfach nicht reformfähig. Aber noch weniger verstehe ich die Leute hier in Deutschland. Sie sitzen gemütlich in der ­U-Bahn und lesen ihre Zeitung, so als ob sie das ganze Chaos in der Welt nichts anginge. In Istanbul sind alle immer angespannt, jederzeit bereit, sich an die Gurgel zu gehen. Ich verstehe diese deutsche Gelassenheit nicht.« Etwas gereizt antworte ich: »Ein einziges Bild vielleicht zur Erklärung: Berlin 1945. Die ganze Stadt war ein Trümmerfeld, eine einzige Ruine! Es schien, als würde sich das Land niemals davon erholen. Aber dieser heilsame Schock hat 70 Jahre Frieden gebracht. Und diese scheinbare Ruhe … « Julia ermahnt mich: »Andi, nicht so aggressiv!« Sie hat recht und ich schäme mich. Es ist alles schon schlimm genug, da will ich nicht noch mehr Verwirrung stiften.
Wir essen gemeinsam und später holt Dilek Bier beim Späti. Ich muss lachen, als sie unseren netten türkischen Nachbarn, der dort arbeitet, nur »den Islamisten« nennt. Weil der sie kaum ansieht, was Erol als Vorwurf gegen ihn deutet, er habe seine Freundin womöglich nicht »im Griff«, wenn sie mit kurzen Hosen in den Laden kommt.
Am Tag darauf bieten Freunde aus Dänemark an, Dilek bei einem Antrag auf politisches Asyl zu helfen. Sie will die Türkei eigentlich nicht verlassen, aber Erol würde mit ihr gehen. Was sollen sie tun, nun, da die Türkei sich weiter in Richtung einer Diktatur entwickelt? Dilek und Erol werden noch eine Woche bei uns bleiben. Wir werden noch sehr viel mitein­ander reden.