Der AfD-Hausphilosoph Marc Jongen ist ein politischer Brandstifter

Kritik der zynischen Vernunft

Ein Mann ohne Eigenschaften – der Volks- und Familienphilosoph Marc Jongen.

Marc Jongen lebe, so zitierte ihn Anfang des Jahres die FAZ, »halb im politischen System, halb im akademisch-philosophischen«. Und weil ein solches vermeintlich halbiertes Leben für jemanden wie Jongen schon zu viel an Widerspruch ist, setzt er sich in der Selbstbeschreibung gleich ein paar Evolutionsstufen zurück: Eine Amphibie sei er, und wie diese eben auch in zwei Welten unterwegs, sagt er.
Was Jongen mit seinem Halb-hier-halb-da-Leben meint, ist wahrscheinlich nur in Hinblick auf die fiskalische Behandlung seiner unterschiedlichen Einkommen relevant: Im akademisch-philosophischen Leben wird Jongen an der Karlsruher Staat­lichen Hochschule für Gestaltung als »Akademischer Mitarbeiter für Philosophie und Ästhetik« sowie »Leiter des International Office« geführt, in seinem Leben im politischen System steht Jongen auf der Gehaltsliste der AfD und reüssiert für diese als, wie der »politischen Kurzvita« auf seiner Website zu entnehmen ist, »Direktkandidat der AfD für den Bundestag im Wahlkreis Karlsruhe Stadt (4,0 Prozent Erstimmen, 5,6 Prozent Zweitstimmen)«, zudem »als stellvertretender Sprecher der AfD Baden-Württemberg, Mitglied der Bundesprogrammkommission«. Zudem wurde er »mit 44 Prozent der Stimmen knapp nicht als Beisitzer in den Bundesvorstand der AfD gewählt« und habe ebendort einen »kometenhaften Aufstieg« hinter sich »zum ›AfD-Hausphilosophen‹« (Taz), der »seiner konservativen Protestpartei ein intellektuelles Fundament geben will« (Schweizer Monat).
Was der gewöhnlichen Amphibie Luft und Wasser sind, kann allerdings bei dem atavistischen Reptil Jongen kaum in dieser stofflichen Deutlichkeit unterschieden werden: Die Luft oder das, was früher einmal Geist genannt wurde, ist bei Jongen recht dünn, ein stinkendes Gasgemisch, das aus dem trübbraunen Wasser aufsteigt. Und überdies: So wenig Luft und Wasser zwei Welten sind, so wenig sind es die vermeint­lichen Systeme Politik und Wissenschaftsbetrieb. Auch nicht, wenn Jongen einerseits für die AfD die programmatische Menschenverachtung glattbügelt und andererseits über philosophische Themen wie etwa »Klassiker der Ästhetik« oder »Spekulativen Realismus« doziert, so lehrbetriebsmäßig unverdächtig wie es heutzutage nun einmal an Universitäten zugeht.
Tatsächlich wird man Jongen kaum an seiner akademischen Biedermannarbeit nachweisen können, was ihn parteipolitisch zum Brandstifter macht: Nicht weil er so klug daherschwätzte und das, was er ­philosophisch welcher Welt auch immer mitzuteilen hätte, stets im Brustton raunender Überzeugung sagte – wie es Peter Sloterdijk, Jongens Chefideologe und Abteilungsleiter in Karlsruhe, vormacht; nein, Jongen hat einfach nicht viel zu sagen. Dabei bemüht er sich. Und er hat durchaus ein Gespür für die Aufmerksam­keits­ökonomie und die Marktlücken in der publizistischen Branche: Für die AfD »arbeitet« Jongen, wie seit einiger Zeit quer durch den bundesdeutschen Blätterwald verkündet wird, an einem »philosophischen Grundsatzmanifest«. Einen Vorgeschmack gab es in Cicero, wo im Januar 2014 unter dem Titel »Das Märchen vom Gespenst der AfD« ein Text erschien – »Platz 7 der meist­gelesenen Artikel 2014« –, der hochtrabend als »ein Manifest« angekündigt wird. Eine stilistische Inspiration hat ihm »Das kommunistische Manifest« gegeben; Jongen versucht zu Beginn, die großen Worte vom Gespenst des Kommunismus auf die AfD zu münzen, verdirbt al­lerdings mit der Überschrift vom »Märchen« den gesamten metaphorischen wie politischen Witz, den das »Kommunistische Manifest« dereinst hatte. Wie bei der Vorlage von 1848 ist bei Jongen von einer »Hetzjagd« die Rede: »Die Kanzlerin und der Bundespräsident, Bischof Zollitsch und Claudia Roth, die Antifa und die Mainstream-Medien« hätten sich verbündet, um der AfD den Garaus zu machen. Die Hetzjagd sieht so aus: Trotz Protest von Kollegen und Studierenden hat Jongen seinen Job an der Hochschule Karlsruhe nicht verloren. Mithin gibt man sich versöhnlich: Die hetzenden Mainstream-Medien luden Jongen zum Gespräch ein (u. a. Deutschlandradio Kultur, FAZ, Zeit), oder goutierten ihn – zwar kritisch, doch immerhin, so in Süddeutsche und Zeit, ernsthaft.
Jongen ist ein Mann ohne Eigenschaften, der biographisch ebenso uninteressant daherkommt wie in seinem Anzug mit weißem Hemd und adrett geknoteter Krawatte: Ein Angestellter der Kulturindustrie, der sich, ohne groß anzuecken, durch ihre verschiedensten Abteilungen bewegt – vielleicht wirklich ein wenig wie ein Reptil: Sich der Greifbarkeit zu entziehen, ist seine Strategie, als Person und als Autor. Nicht einmal mehr einen Wikipedia-Eintrag hat er. Er sei, lässt sich über die Spuren der Diskussionsseiten eruieren, schlichtweg zu unwichtig. Selbst auf der relativ langen Wikipedia-Seite zur AfD Baden-Württemberg wird Jongen nur ein einziges Mal erwähnt, und dies nicht einmal mit roten Buchstaben für einen noch ausstehenden Artikel.
Gleichwohl hat Jongen es geschafft, in den vergangenen Monaten im Feuilleton ein bisschen für Wirbel zu sorgen: zwar nicht, weil er sich an der Hochschule, an der er Philosoph ist, als AfD-Mitglied präsentiert – das ist ihm untersagt worden–, sondern weil er in seine Parteiarbeit seine – wie auch immer quali­fizierte – Berufskompetenz als Philosoph einbringt. Und das unterscheidet ihn eben von Frauke Petry oder Björn Höcke: nicht, weil Jongen etwas signifikant anderes sagen würde, sondern weil er einen signifikant anderen Posten in einem signifikant anderen Diskurs bezieht.
Was diesen Diskurs signifikant macht, benennt unverhohlen Michael Wiederstein in der »Vorrede« zum »Disput« zwischen Jongen und Jörg Scheller, der kürzlich im »Online-Spezial« des Schweizer Monat platziert wurde: »Es geht nicht mehr nur um liberal und konservativ, links und rechts. Es geht darum, sich darüber zu verständigen, was darunter überhaupt zu verstehen ist. Solange dies nicht ausgemacht ist, kreisen die Debatten früher oder später auf zunehmend aggressive, destruktive Weise um das diffuse Begriffspaar ›die‹ und ›uns‹.«
Was in diesem »Disput« nun passiert, bringt keineswegs die angemahnte Verständigung; Jongen hat das Schlusswort zum Schlagabtausch, der mit sportlich-aggressiver Fairness über die Bühne ging, Matchpoint für Jongen – nicht, weil er die besseren Argumente für was auch immer hätte, sondern weil dieses Match überhaupt stattfand. Verständigt wurde sich lediglich darüber, dass man sich – bei aller Diskrepanz der »Meinungen« – gefälligst über alles verständigen sollte. Jongen fungiert hier nicht als Stimmungsmacher und Einheizer, sondern – und da ist er ganz und gar Philosoph nach Sloterdijks Vorbild – als Moderator, der schließlich den Diskurs, in dem er Stellung bezieht, überhaupt erst hervorbringt.
Das ist indes keine sonderliche Qualifikation von Jongen, sondern bezeichnet Wesentliches am Gesellschaftscharakter, der für die Generation und das Milieu, zu dem Jongen gehört, typisch ist und mittlerweile entscheidende Elemente einer neuen deutschen Mentalität prägt. Seine Grundlegung hat dieser Gesellschaftscharakter in den achtziger Jahren erfahren, also in dem Jahrzehnt, in dem der 1968 in Südtirol geborene Jongen seine – womöglich auch politische – Sozialisation erfahren hat: Überschattet von einer »Neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) ließen sich die noch in den Siebzigern stabil erscheinenden Ansprüche auf intellektuelle, schließlich auch politisch liberal-sozialdemokratische Verbindlichkeiten nicht mehr durchsetzen; im Fahrwasser eines postmodernistischen »any­thing goes« konnte stattdessen eine Neue Rechte eine »Streitkultur« etablieren, die über Jahre, bis weit in die Neunziger, auf neurechte Publikationen beschränkt blieb, nunmehr aber sämtliche Bereiche, Sparten und Rubriken postbürgerlicher Öffentlichkeit kontaminiert hat. Es war indes Sloterdijk, der diesen damals noch exklusiven, heute zum banalen Tagesprogramm verbrämten Zeitgeist ein monumental-manieristisches Manifest gab, als er 1983 die »Kritik der zynischen Vernunft« veröffentlichte. Das Manifest war nicht das Buch selbst, sondern die mit seiner Veröffentlichung und Vermarktung verbundene Setzung eines Jargons und die Inszenierung seiner prätentiösen männlichen Sprecherrollen: Der Kyniker spricht für ein durch die zynische Vernunft des Marktes und der Parlamente – heutzutage wird hinzugefügt: und der Medien – entmachtetes Volk; er spricht Wahrheiten aus, die sich keinen Deut von dem, was der Pöbel auf der Straße skandiert, unterscheiden, die aber als Ressentiment mit philosophischem Jargon »nachgefühlt« werden – so die wörtliche Bedeutung von Ressentiment. Jongen nennt das »die Lobby des Volkes«.
Ideologisch wiederholt sich hier, was um 1900 die »moderne Antimoderne« (Volker Weiß) kennzeichnete; Friedrich Nietzsche ist seither dafür der philosophische Gewährsmann. Das Prinzip ist zum Schema geworden; mittlerweile reicht es, schlichtweg mit ein paar Begriffen zu klappern.
Was überdies neu ist an dem Diskurs, in dem auch jemand wie Jongen seinen Posten bezieht, ist die philosophische Verbrämung des Ressentiments, das offenkundige Eingeständnis emotionaler Verunsicherung, sich irgendwie – trotz Abitur und Studium – im ganzen Wirrwarr des Meinungsmarktes nicht mehr zurechtzufinden.
Mehrere Artikel gibt es, in denen gestandene Feuilleton-Journalisten sich wundern: Karsten Polke-Majewski schrieb im Februar 2016 in der Zeit über Björn Höcke als »mein Mitschüler, der rechte Agitator«, Malte Henk ebendort im März 2016 darüber, »wie ich auszog, die AfD zu verstehen«; im Mai 2016 erschien in Christ & Welt unter dem Titel »Der Riss durch uns« ein »Briefwechsel zum Abschied«: »Andreas Öhler und Siegfried Gerlich diskutierten einst beim Wein alle Weltprobleme. Zwischen sie passte kein Blatt Papier. Dann trennten sich ihre politischen Wege. Die Spaltung des Landes in rechts und links beendet nun ihre Freundschaft.« Gerlich spielt Klavier für Alexander Kluge und Eva-Maria Hagen, wenn er nicht für die Sezession über Ernst Nolte und andere philosophiert.
Solcherlei Verständigungsversuche zielen entweder darauf ab, inmitten der Gegenaufklärung doch vertrautes Aufklärungsdenken zu entdecken, oder sich über den Nachweis zu freuen, dass das, was etwa Jongen von sich gibt, sachlich unlogisch oder einfach falsch ist und keinen Sinn ergibt.
Eine notwendige, schließlich auch unter Umständen demokratisches Bewusstsein stärkende Kritik wird so sukzessive von einer »Debatte« überlagert, in der Ressentiments und Chauvinismus genauso beiläufig als tolerable Meinung verhandelt werden wie jede andere Äußerung auch. Jede und jeder darf sagen, was er will, je höher der akademische Rang und die berufliche Reputation, desto eher wird man ernst genommen; der Rest, also alles, was in der politischen Meinungsbildung offenbar nicht einmal die Reflexionsstufen des Vorbewussten erreicht hat, darf sich dann über Kommentarfunktion, Twitter und Facebook auskotzen, oder kommt, wie Akif Pirinçci, zur Strafe schlimmstenfalls ins Frühstücksfernsehen.
Marc Jongen indes, der seine »Einbürgerung in Deutschland« auf 2011 datiert, sagt mittlerweile: »Ich bin selbst dann für Deutschland, wenn es gegen Holland spielt.« Um zu konstatieren: »So weit ist es mit meiner Assimilation also schon gekommen.« Jongen hat dennoch an­gekündigt, Deutschland demnächst publizistisch und real zu verlassen: »Erneut entwickelt sich die Schweiz zum Exil dissidenter deutscher Meinungen und Intellektueller, nachdem die Medien in Deutschland zunehmend gleichgeschaltet worden sind – oder sich besser gesagt selbst gleichgeschaltet haben.« Der Auswanderung nachzuhelfen, hieße, tatsächlich einmal die bestehenden Reste an Aufklärung und Demokratie medial gleichzuschalten, um den politischen Stumpfsinn mit Volk und Philosophie zu verbannen.