03.11.2016
Die Aktualität Adornos medienphilosophischer Reflexionen

Maschinerie und Gewalt

Was Adornos medienphilosophische Reflexionen für die Gegenwart bedeuten.

In der Mediensoziologie werden Theodor W. Adornos Überlegungen zur Rolle der Massenmedien im Zusammenhang von Tauschabstraktion und Herrschaft häufig als »nicht anschlussfähig« verworfen. Oder sie werden aus dem Blickwinkel einer Ambivalenztheorie der Massenmedien rezipiert. Die unterscheidet zwischen manipulativen Entmündigungsaufgaben der Massenmedien und ihrem Subversionspotential, das in widerständiger Aneignung zu erschließen sei. Das kommt bei Adorno zwar nur marginal vor, wird aber nicht geleugnet. Er weist zum Beispiel auf anarchische Impulse filmischer Komik hin – oder auf Kinobesucher, die im dämmrigen Saal passiven Widerstand gegen fordistische Produktivität leisten.
Auch bei der akademischen Frage, was Medienphilosophie ist (wenn es denn überhaupt eine gibt), mögen nur wenige an Adorno anknüpfen. Detlev Schöttker, Berliner Medienwissenschaftler und Ernst-Jünger-Forscher, erklärt in seinem Beitrag zum 2008 erschienenen Sammelband »Philosophie in der Medientheorie. Von Adorno bis Žižek«, wieso. Die frühe Phase der Kritischen Theorie sei medientheoretisch defizitär gewesen und Adorno habe dort lediglich angedeutet, dass sich Kultur durch Medientechnologie und -gebrauch verändert. Schöttkers Lesart ist, gelinde gesagt, erstaunlich: Im alten Institut für Sozialforschung sei man auf Ideologiekritik fixiert gewesen, daher sei die Relevanz von »Film und Rundfunk für die ideologische Stabilisierung des Nationalsozialismus« unterschätzt worden. Weiterhin meint Schöttker, Adorno habe in der »Dialektik der Aufklärung« dann eine »Verdammung der Kulturindustrie« vorgetragen, und die sei dafür verantwortlich, dass seine spätere, »differenzierte Sicht auf die Massenmedien … nicht angemessen wahrgenommen wurde«. Dort würde »Medienkritik« nämlich »durch medienanalytische Überlegungen ergänzt«. Darunter versteht Schöttker Stellen, in denen Adorno die Beiträge betont, die Medien durch Reproduktion von Musik zur begreifenden Rezeption von Kunstwerken leisten können. Die hatte Adorno zwar auch in seinen früheren Schriften nie geleugnet, aber Schöttker sieht nun eine »neue Haltung Adornos gegenüber den Massenmedien«. Es scheint, als habe er Adornos Theorie nicht ganz verstanden – was sich im übrigen bereits in der säuberlichen Trennung von Medienkritik und -analyse andeutet.
Wenn man mehr über Adornos philosophische Medienreflexion wissen möchte, sollte man am Begriff der Vermittlung ansetzen. Einst in aller Munde, wenn es um Sozialkritik ging, klingt dieses Konzept heute reichlich retro. Gleichwohl gehört es nicht in die Mottenkiste. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft bezeichnet der Begriff der Vermittlung immerhin einen von vielen Aspekten der Medialität. In der Philosophie ist er hingegen das zentrale Konzept. So stellt beispielsweise der philosophische Begriff des Menschen eine vermittelnde Verbindung her: zwischen empirischen Einzelwesen und der Art oder der Gattung. Und auch zwischen der Wirklichkeit der Menschheit als daseiender Realität und ihrer Möglichkeit als befreitem oder emanzipiertem Kollektivsubjekt.
Das Thema der Vermittlung wird bei Adorno in seiner philosophischen Neubestimmung der materialistischen Dialektik und in der kritischen Theorie der Musik entfaltet. Für Adorno sind Medien das Vermittelnde, das als solches selbst Vermitteltes ist. Nicht nur die Begriffe des Menschen und der Menschheit sind medial, sondern auch der Reflexionszusammenhang, in dem sie sich entfalten. Adorno bezeichnet in seiner »Einleitung in die Musiksoziologie« von 1967 die philosophische »Freiheitsidee« als »Medium der bürgerlichen Emanzipationsbewegung«. Diese Idee weise historisch über die reale soziale Bewegung hinaus, weil die bürgerliche Emanzipation auf den Kredit der menschlichen erfolgte, die dann bekanntlich ausblieb.
Zugleich ist es für Adorno wichtig, die relative Selbständigkeit der begrifflichen Sphäre nicht zu übersehen. Deren Vermittlung mit sozialen Bewegungsgesetzen, also die »Vermittlung von Geist und Gesellschaft« finde – genau wie die von Kunst und Gesellschaft – »nicht äußerlich, in einem dritten Medium zwischen Sache und Gesellschaft« statt, »sondern innerhalb der Sache«.
Die »Negative Dialektik« zeigt, dass die denkende Analyse von Besonderem, Einzelnem, in diesem selbst das Ganze aufzuspüren hat, dessen Teil es ist. Und weil »die Vermittlung von beidem durch die gesellschaftliche Totalität« erfolge, ist Dialektik für Adorno nicht nur philosophische Darstellungsmethode, sondern zugleich auch »Sachverhalt objektiver Art«. Oder, wie es in der Vorlesung »Einführung in die Dialektik« von 1958 heißt: »Dialektik ist beides, eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur der Sache.«
Bei Hegel hatte die Vernunft (beziehungsweise der Geist) Züge des Medialen. Geist ist für Hegel die Entstehungsbedingung seines Anderen, mit dem er sich im Prozess von dessen Entfaltung zusammenschließt und sich in diesem Vollzug, als Rückgang in den Grund, schließlich in der Reflexion selbst aufhebt. Unter »Vermittlung« versteht Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« »die sich bewegende Sichselbstgleichheit«. Das ist »die Reflexion in sich«, »die reine Negativität oder … das einfache Werden«. Vermittlung ist hier »ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muss«. Warum? Damit das Absolute, also der Begriff oder die Wahrheit, in der entfalteten Bewegung der Begriffe zu sich selbst kommen kann.
»Der Ausdruck ›Vermittlung‹ bedeutet bei Hegel immer soviel wie die Veränderung, die einem Begriff zugemutet werden muss in dem Augenblick, in dem man dieses Begriffs selbst innewerden will«, referiert Adorno. Soll heißen: Um beispielsweise die Bedeutung der Begriffe des Absoluten, des Göttlichen oder auch der Freiheit zu ermessen, müssen diese Begriffe zunächst einmal relativiert und verweltlicht werden. Das geschieht, indem sie sich in einem Satzgefüge durch Prädikation ihrer selbst entäußern. Ohne solche Veränderung wäre der Begriff, der doch für das das Höchste stehen soll, bedeutungslos. Ohne Vereinzelung bliebe das Allgemeine unspezifisch. Das hat nach Adorno nicht bloß logische Gründe, sondern vor allem ontologische: »Die Vermittlung ist das Moment des Werdens, das in einem jeglichen Sein notwendig gesetzt ist.«
Karl Heinz Haag schrieb in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Adorno: »Alle Vermittlungsversuche von Allgemeinem und Besonderem – von Aristoteles bis hinauf zu Hegel – enden in einer Bestimmung des Nichtidentischen durch Identität.« Dem unwiederholbaren Einzelnen kann nach Adorno jedoch nur ein Denken gerecht werden, das den »Vorrang des Objekts« anerkennt. Denken möchte die qualitative Besonderheit seiner Gegenstände erschließen. Dafür müsse es anerkennen, dass es in seinem ureigenen Medium, dem Begrifflich-Allgemeinen, nie ganz an die Gegenstände heranreichen kann. Aber Denken, das dessen eingedenk ist, könnte sich für das öffnen, was sich seiner begrifflichen Reduktion entzieht.
Das ist die Denkfigur der »Negativen Dialektik«. Unter Befreiung vom Identitätszwang versteht sie freilich nicht Freiheit von der Mühe folgerichtigen Denkens. Das Konzept des »Nichtidentischen« ist für Adorno der einzig gangbare Weg, um im philosophischen Denken »die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen« zu begreifen. Diese Vermittlung kann ihm zufolge nur einem Denken in Konstellationen gelingen. Es soll über die Beschränkungen definierender und identifizierender Methoden hinausdrängen, um den »Sachen« zu ihrem »Ausdruck« zu verhelfen. Im »Ausdruck« könnten individuell-besondere Züge mit allgemeinen Strukturen vermittelt werden, ohne jene unter diese zu subsumieren. Daher vermittelt Adorno die begriffliche Arbeit der Philosophie mit den nichtdiskursiven Verfahren der Sprach-, und Ton- und Bildkünste.
In seiner Auseinandersetzung mit der akademischen Musiksoziologie betont Adorno, man könne nicht im Detail und auch nicht in lückenloser Übersicht nachzeichnen, wie die Vermittlung von Musik und Gesellschaft stattfindet. Deshalb spricht er von der »Unendlichkeit der Vermittlungen« auf diesem Gebiet. Das ist aber kein Notbehelf, sondern Programm.
Adorno leitet die Vermittlung von Ästhetischem und Sozialem grundsätzlich aus einem Widerstreit ab – also aus einer sozialen Formstruktur, die der Bewegung der Vermittlung zunächst genau entgegengesetzt ist. Dabei handelt es sich um die Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Sie wird als in sich widersprüchlich beschrieben: Die Produktionsverhältnisse fesseln die Produktivkräfte, die sie zu Beginn der industriekapitalistischen Epoche förderten. Sie hemmen ihre weitere Entwicklung und drängen sie doch immanent dazu, sich befreiend an ihnen abzuarbeiten; sie fördern also deren Entwicklung zugleich.
Vermittlungskriterium ist bei Adorno wie bei Marx der gesellschaftliche Charakter der Arbeit. Jedes einzelne Arbeitsprodukt ist vorgängig immer schon auf die sozialen Formen seines Tauschs bezogen. Die Orientierung am Tauschwert treibt nicht nur die Verteilung der Güter an, sondern bereits deren Herstellung.
In jeder Epoche sind alle Produzierenden durch den gesamtgesellschaftlichen Charakter ihrer Einzelarbeiten stärker miteinander verbunden als voneinander separiert. Auch dann, wenn der Grad der entfalteten gesellschaftlichen Arbeitsteilung hoch ist.
Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit vermittelt die Individuen und ihre (materielle und immaterielle) Produktion mit dem Ganzen einer Epoche. Und er vermittelt die geistigen Produktionen des »Überbaus« mit den dinglichen Produkten der »Basis«. »In diesem kollektiven Moment, dem jeweils objektiv vorgezeichneten Verhältnis von Verfahrungsweisen und Materialien kommunizieren … der künstlerische und materielle Stand der Epoche«, heißt es in der »Einleitung in die Musiksoziologie«.
Im Detail zeigt Adorno anhand von Umbrüchen der musikalischen Sprache auf, wie die hochkapitalistische Produktionsweise in der Phase der Weltausstellungen und des europäische Imperialismus zusammenhängen. Zum Beispiel an den Schockwirkungen, die Kompositionen von Berlioz in der zeitgenössischen Rezeption auslösten, indem sie die überlieferte Logik der musikalischen Form durch Fragmentierung in eine Krise führten. Ein weiteres Beispiel ist Wagners Ideologie des Gesamtkunstwerks: Dessen ästhetische und soziale Unwahrheit sei daran zu erkennen, dass in ihm der Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verleugnet werde.
In der Unterhaltungsmusik spürt Adorno verzögert eingeführte Fortschritte des Komponierens aus der autonomen Kunstmusik auf, zum Beispiel die Tendenz zur Chromatisierung der Melodik. In Schönbergs posttonaler Kompositionstechnik ist sie, als gleichberechtigte Stellung aller zwölf Halbtonschritte, zur Konsequenz geführt worden. In die Gebrauchsmusik, die sich nicht von der Tonalität trennen mag, wurde sie als schmückendes Beiwerk eingeführt. Die Hauptnoten, die sozusagen den Ton der Melodie angeben, werden ornamental mit Nebennoten umspielt. Sie befinden sich in direktem Abstand darüber oder darunter. So wird die Attraktivität der Melodie gesteigert, ohne dass man im Ganzen »der versteinerten Invarianz der Tonalität« in diesem Sektor abschwören würde. Der Tauschwert musikalischer Waren wird erhöht durch Anleihen bei ästhetischen Errungenschaften, die sich nicht um Tauschwert scheren (wie in der Romantik) oder sich geradezu seiner programmatischen Verneinung verdanken (wie die Reihenkompositionstechnik). »Solche Tiefenprozesse«, betont Adorno, »sind mehr als bloße Anleihen bei der hohen Musik: minimale Siege der Produktion über Distribution und Konsum«.
Wenn kritische Theorie nach dem gesellschaftlichen Gehalt der Musik fragt, geht es um die ästhetische Erscheinungsweise der wesentlichen Frage nach der Vermittlung von Allgemeinem und Besonderen im Zusammenleben der Menschen. Es geht letztlich um die Frage der Vermittlung des sozialen Allgemeininteresses mit den besonderen Interessen der Individuen unter Bedingungen der Herrschaft oder der Freiheit.
In der Massenkultur werden technische Produktivkräfte per se gefeiert und, über formal-symbolische Vermittlung, nachahmend wiederholt. Adornos These, dass Unterhaltungsmusik den »Konflikt« zwischen »der Mechanisierung der Produktion« und »dem lebendigen Körper in der Freizeit« zwanghaft nachbildet und wiederholt, ließe sich an der Techno-Musik der neunziger Jahre viel stringenter zeigen als am Jazz, den Adorno dafür heranzieht. Unter »Jazz« verstand er nur jene weiße US-amerikanische Tanzmusik in Stil von Paul Whiteman, die er aus Frankfurt, der deutschen »Jazz-Hauptstadt«, seit den zwanziger Jahren kannte. Das aber war ein Stil, der Errungenschaften schwarzer Musik kannibalisierte.
Adorno hat den Jazz in vieler Hinsicht missverstanden. Seine ästhetische Charakteristik aus der »Einleitung in die Musiksoziologie« leuchtet erst mit Blick auf technoide Raves so richtig ein: »Symbolisch wird etwas wie eine Versöhnung zwischen dem hilflosen Körper und der Maschinerie, dem menschlichen Atom und der kollektiven Gewalt gefeiert.« Das kennen wir zur Genüge. Kultstätten der Technomusik sind verlassene Produktionsstätten aus der letzten Blütezeit industrieller Massenproduktion. Vielleicht geht es in der Techno-Szene ja gar nicht so sehr um die Performance einer symbolischen Versöhnung? Vielleicht geht es vor allem darum, die Erinnerung an die Gewalt industrieller Arbeit ins Körpergedächtnis der Zeitgenossen eines jobless growth einzuschreiben. Industriearbeit konnte immerhin mit dem zweifelhaften Versprechen der Vollbeschäftigung locken. Durch ihre spielerisch-performative Einprägung in die muscle memory könnte jene subtilere Nachfolge-Gewalt abgesichert werden: der Zwang zur Selbstvermarktung. Die besteht im Internet-Zeitalter in permanenter »netzbildender Tätigkeit des Vermittelns« (Boltanski/Chiapello). Zur Basiskompetenz eines jeden »unternehmerischen Selbsts« (Bröckling) gehören gewissermaßen die Jobs von Agenten und Impressarios, den professionellen Vermittlern aus der Sphäre der Warenzirkulation, die einstmals arbeitsteilig ausgeübt wurden.