Eine Kritik der postideologischen Versuche, sich die kapitalistische Gegenwart schönzureden

Das Falsche wird niemals richtig

Ivo Bozic und Stefan Laurin glauben an das Gute im Kapital. Ihre Antworten darauf, wie emanzipatorische Perspektiven nach dem Wahl­sieg Donald Trumps aussehen könnten, sind symptomatisch für Kritiker, die nicht mehr von der Destruktivität des Kapitalismus sprechen wollen.

Eine grundlegende politische Umwälzung der Verhältnisse scheint nicht nur durch den Lauf der Geschichte in weite Ferne gerückt zu sein. Manche wollen sie auch gar nicht – wo sie es sich doch eigentlich ganz gemütlich eingerichtet haben – und reden sich die kapitalistische Gegenwart schön. Dem Gang der Verwertung des Werts müsse die Linke nur ein wenig in ihrem Sinne nachhelfen, dann werde es schon Wohlstand und Humanität für alle geben.
Mitsamt dem Kommunismus haben Ivo Bozic und Stefan Laurin auch Marx entsorgt. Sie wollen nüchtern und post­ideologisch wirken, aber ihre vermeintliche Vernunft ist Blindheit gegenüber dem Kapitalverhältnis und Komplizenschaft mit dessen Gewalt – bei Laurin durch offene Verleugnung, bei Bozic durch naiv-hoffnungsvollen Glauben an eine emanzipatorische Entwicklung der Produktivkräfte.
Für Marx war die Entwicklung der stofflichen Reproduktion noch derart mit ihrer gesellschaftlichen Form verbunden, dass die gewaltige Übermacht des Bestehenden zumindest theoretisch ins Wanken geriet: Im Proletariat vereinigte sich die verelendende Ne­gativität der herrschenden Entwicklung mit dem ebenfalls aus ihr entspringenden Fortschritt der Produktivkräfte zu einem gesellschaftlichen Widerspruch, der die Überwindung von Herrschaft als möglich erahnen ließ. Dieser Widerspruch ist seither größer, nicht kleiner geworden; schlimmer noch, was für Marx noch dialektisch in Richtung des menschlichen Fortschritts wies, die ­kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte, ist selbst unzweideutig des­truktiv geworden. Bozic und Laurin ficht das nicht an, sie schlagen sich fröhlich auf die eine Seite des Widerspruchs und lassen die Frage der Gewalt aus der Reflexion herausfallen. Bozic setzt auf eine vom Kapital hervorgebrachte neue Klasse von avantgardistischen »Globalisten«, die aufgrund ihrer Reproduktionsbedingungen weltweit miteinander vernetzt seien und deren zivilisierende Kraft die alten nationalen und provinziell-bornierten Verhältnisse umstürzen soll, scheut aber vor der Frage zurück, was so etwas wie ein Todeskampf der Nationen beim Stand der gegenwärtigen Destruktivmittel bedeuten würde. Laurin hat dagegen entdeckt, dass der Kapitalismus »im engeren Sinne« gar keine so schlechte Lösung sei, und verheddert sich dabei in so absurde Widersprüche, dass seine offene Affirmation der vergangenen Gewaltgeschichte als auf- wie abgeklärte Nüchternheit erscheint.
Er will die bedauerliche »Bruch­phase« in der »langen historischen Linie in Richtung Fortschritt«, die das Kapital für »die kommenden Jahrzehnte« lahmzulegen droht, durch den ­Abbau von Subventionen beenden. Allerdings weiß Laurin: So gut wie er können’s leider doch nicht alle haben, da hilft der beste Wille nichts. Zugleich fordert er Handelsvorteile für solche Staaten, die sich den – vollkommen entleerten – Begriff der Demokratie auf die Fahnen geschrieben haben. Er will dabei offenbar nicht verstehen, dass Demokratie in substantieller Form – wie auch die von ihm geforderten Betriebsräte – gerade nicht besonders kapitalförderlich ist. Den abpressenden Charakter des Kapitalverhältnisses hat Laurin offensichtlich nie begriffen. Hinter seiner Kritik am begrenzten, »rassistischen« Nationalstaat versteckt sich die einfache Unkenntnis dessen, dass die Erde nicht unbegrenzt ist und das Problem der Wachstumskrise auch auf globalisierter Ebene auftauchen wird beziehungsweise schon längst besteht. Die kapitalistische Produktion beruhte seit jeher auch auf einer fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation und so waren die »Werte« des Westens auch mit dem Elend in der restlichen Welt erkauft. Vom Kolonialismus über den Imperialismus zum Neokolonia­lismus zieht sich eine Spur der Gewalt, aus deren Profiten im Westen allerlei Schönes, Gutes und Wahres entwickelt werden konnte. Da eine weltweite Aufhebung des Kapitalverhältnisses, die allein diese Ideen hätte substantiell machen können, bislang nicht stattgefunden hat, können Liberale weiterhin ihre »westlichen Werte« verteidigen, deren barbarische Grundlage sich über die Welt ausgebreitet hat, ohne den entsprechenden Reichtum mit sich zu bringen. Auch heutzutage werden Betriebsräte in den chinesischen Fabriken gewaltsam bekämpft, und falls doch mal einer gegründet wird, wandert die Produktion zur Profit­maximierung eben weiter – eine Profitmaximierung, deren stoffliches ­Resultat zugleich das günstige T-Shirt der Putzfrau in Kuala Lumpur wie auch der SUV der verbitterten Trump-Wähler ist.
Bozic ist wenigstens materialistisch genug, nicht von den ramponierten Werten der kapitalistischen Zivilisation auszugehen. Er widmet sich den ge­sellschaftlichen Trägern eines noch ansatzweise humanistischen Bewusstseins: Die globalen Großstädte werden ihm zum Hort eines technologischen, sozialen und kulturellen Fortschritts, der der nationalen Barbarei der zurückgebliebenen Provinzler entgegenwirken soll. Im Überschwang des Glaubens ans Positive begreift er diesen »Globalismus« allerdings als notwendige Fluchtlinie der Entwicklung, ohne sich von der ihm immanenten Gegentendenz allzu sehr beeindrucken zu lassen. Weist Laurin zu Recht auf die Reprovinzialisierung von Großstädten weltweit hin, so zeigt sich darin, dass auch in den Metropolen die Integrationskraft eines nicht mehr großartig expandierenden Kapitals schwindet, mit den überall beobachtbaren Folgen: der Zerfall von Staaten, Gesellschaften und Milieus in Mobs, Rackets und identitäre Bewegungen von links und von rechts, die Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Verdrängung der Wohnbevölkerung aus den vom Kapital aufgewerteten Innenstädten, die Wiederkehr eines verelendenden Tagelöhnerproletariats und einer perspektivlosen Dienstleisterklasse.
Aber die »Low-Budget-Expats, Bau­arbeiter, Dienstmädchen, Taxifahrer, Ärzte, Lehrer, Handwerker, Erasmus-Studenten, Traveller, Easy-Jetsetter, Banker und Flüchtlinge«, die sich in der Stadt »treffen«, indem sie sich die Klinke in die Hand geben – etwa wenn der Arzt seine Berliner Wohnung, die das Dienstmädchen zum Untertariflohn grundreinigt, auf Airbnb an den Erasmus-Studenten aus São Paulo ­vermietet, der sich sein Essen vom Low-Budget-Expat auf dem Rennrad liefern lässt, während der Arzt in Kuala Lumpur billig Urlaub macht, um dort in einer schicken neuen Mall einzukaufen, für die der Bauarbeiter, dem es in ­dieser Hinsicht nicht anders ergeht als seinem Kollegen in Berlin, keinen Lohn gesehen hat, während allerdings wiederum der Flüchtling, wenn er großes Glück hat, in seinem Aufnahmelager sitzt und von all dem nichts mitbekommt –, sollen Vorboten eines neuen Kosmopolitismus sein, schließlich gibt es keine Bande mehr, die sie an irgend­eine Heimat fesseln, was sie anscheinend immun macht gegen Ressentiments.
Hat Bozic jedoch das Regressive erst einmal an die Idiotie des Landlebens delegiert, fällt die Trostlosigkeit der Verstädterung nicht mehr als dialektisches Gegenstück zur Entleerung der Provinz in den Blick. Verlagert sich die Produktion beziehungsweise Entwicklung des Kapitals tatsächlich in die Metropolen, so ist es die ihr eingeschriebene Gewalt, die zur Barbarei der hängengebliebenen Provinzler ebenso wie zur Idiotie eines Metropolitismus führt, der von den stofflichen Voraussetzungen der großstädtischen Existenz nicht wissen muss, dass sie verheerende Konsequenzen für die Naturgrundlage der Gesellschaft haben. Am liebsten wäre es der urbanen Boheme in ihrem Dienstleistungsparadies, sie könnte auf das Umland – abgesehen vom Häuschen im Grünen – mitsamt seinen hässlichen Bewohnern verzichten. Aber irgendjemand muss die Drecksarbeit ja machen: Bergwerke und Landwirtschaft gibt es selten in Stadtzentren und die schmutzige Industrieproduktion findet eher in Regionen statt, in denen unter Smogwolken und Müll von metropolitanem Flair wenig zu spüren ist.
Aufgabe des Schreiberlings im Kampf gegen die Barbarei ist es, die ­Widersprüche zu bezeichnen, nicht zu verklären; nach wie vor gilt die Warnung aus der »Dialektik der Aufklärung«, man dürfe die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts nicht dessen Feinden überlassen: »Wie weit muss eine Gesellschaft gekommen sein, in der bloß noch die Schurken die Wahrheit sprechen und Goebbels die Erinnerung ans lustig fortgesetzte Lynchen wachhält.«