Der Roman »Wiesengrund«

Auf einen Kakao mit Adorno

Gisela von Wysockis Bildungsroman »Wiesengrund« schildert die Beziehung einer Studentin zu ihrem berühmten Professor.

Theodor W. Adorno besaß eine stets souverän klingende Stimme. Ausgerechnet er, der Kritiker der Massenmedien, verfügte in der postfaschis­tischen Bundesrepublik über mehr Hörer als Leser. Ihnen kroch Adorno durchs Ohr direkt in den Kopf. Die Sechziger waren eben auch die Zeit des Hörfunks.
Die Intimität der Radiostimme ist es auch, die Gisela von Wysocki zum Ausgangspunkt ihres Romans »Wiesengrund« macht. Hanna Werbezirk, ein Mädchen, das in Salzburg aufwächst, liegt nachts mit dem Radio unter der Decke im Bett. Euphorisiert lauscht sie einer Stimme, die »klingt, als habe sie im hintersten Winkel der Kehle eine Höhle entdeckt, die für den lückenlos klingenden Satz die beste Bedingung bietet«. Ein kurzes Luftschnappen über der ­Decke reicht schon, um den Anschluss an die eng verzahnten Wortreihen verloren zu haben. Und so phantasiert Hanna mehr, als dass sie versteht: »Vereinsamung des Subjekts«, »spätbürgerliche Phase« – Worte, zunächst ohne weitere Bedeutung. Am nächsten Tag ist nur das »Fernweh im Kopf« übrig. Der Drang, sich Wissen anzueignen, schafft eine eigene Wirklichkeit. Und dieser Drang wächst, während im Nebenzimmer der Vater, ein Astrophysiker, über sie wacht. Vor ihm hält sie ihr privates Ritual geheim. Die beinahe märchenhafte Sprache, in der Hanna ihre Interpretation der physikalischen Gesetze des Kosmos erzählt, gibt Wysocki in den anfangs nur wenige Seiten langen Kapiteln wieder. Zuerst hangelt sich Hannas Phantasie an den Entdeckungen des Vaters entlang, später dann an der eigenen Beobachtung: an Wiesengrunds Hutkrempe, einem Reptil im Schaufenster, den Nachbarn. Miniaturen, die das widersprüchliche Leben in den Sechzigern auffangen.
Obwohl »Wiesengrund« zweifellos von Theodor W. Adorno handelt, kommt der Roman ohne Theorie aus. Vielmehr erzählt er die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mädchens, das aus der Provinz auszubrechen versucht. Die Autorin, geboren 1940, studierte bei Theodor W. Adorno. Sie zog nach Frankfurt, um – seinetwegen – Musikwissenschaften und – bei ihm – Philosophie zu studieren. Und genau wie ihre Protagonistin war auch die Studentin Wysocki von Adorno intellektuell beflügelt.
Die Sprache Wiesengrunds wird für Hanna eine Brücke ins Erwachsenenleben. Hanna geht zum Studium nach Frankfurt, um eine Welt zu entdecken, die ihr nicht »einfach vor die Nase gesetzt« wurde. Doch zunächst ist sie enttäuscht, denn die Stimme, die ihr nachts ins Ohr geflüstert ­hatte, erklingt nun in einem vollen Hörsaal. Und die Stimme gehört ­einem Menschen: »Es ist ein untersetzter Herr, der einen grauen Anzug trägt«, beschreibt Hanna ihren Professor. Der Hut, die Uhrenkette: altbacken. Der Habitus: bürgerlich, ganz anders, als es die rebellierenden Studierenden erwarten. Doch trotz der Enttäuschung bleibt die Faszination bestehen. Zurück in Salzburg beschreibt sie Wiesengrund ihrem Vater mit den Worten: »A standhafte Gstalt mit der Kontur von an wundersamem Obelisken.«
Erst die Sprechstunden bei Wiesengrund lassen wieder Intimität entstehen. Der Professor schmeichelt seiner Studentin, fragt nach ihrem Leben. Doch Hanna antwortet nicht. Voller Ehrfurcht verstummt sie oder versucht verzweifelt, ihm mit verspielten Antworten zu imponieren. »Ich bin ein nach Worten ringender Trabant, der einen Stern umkreist«, denkt sie. Und bloß in der Phantasie bietet sie ihm trotzig die Stirn. Schließlich findet sie doch ein paar Worte, schmückt ihr Leben als Untermieterin in absurden Szenen aus. »So a Theata! Afoch lulumäßig!« schmettert sie. Und Wiesengrund lauscht fasziniert. Wie zu Nachtstudio-Zeiten, bloß andersherum.
Die Sprachlosigkeit zieht sich durch das gesamte Buch. Wiesengrund nimmt Hanna mit in eine Zoohandlung in Sachsenhausen, lädt sie auf eine heiße Schokolade ein, schmückt sich auf Abendveranstaltungen mit ihr. Einmal fragt Wiesengrund Hanna im übervollen Institutsfahrstuhl, ­warum es in seiner Vorlesung kaum Wortmeldungen gebe. »Mich beschäftigt Ihr aberwitziger Hut mehr als Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹«, denkt sie wütend und bleibt minutenlang stumm. Überhaupt sind es eigentlich nur Männer, die in diesem Buch sprechen, eine Haltung haben und die Welt erklären. Hanna und die anderen Frauen ­denken sich ihren Teil. So war es in den sechziger Jahren und ist es auch heute noch allzu oft.
Immer wieder verschlägt es der kindlich verkopften Protagonistin die Sprache. Die metaphorische Sprache wirkt umso kitschiger, je differenzierter Hanna ihre Umwelt wahrnimmt. Und nicht zuletzt ist Wiesengrunds Werben ganz schnell vor allem eins: übergriffig. Einmal schreibt die Protagonistin von der »fast schon rituellen Begutachtung meiner Beine«, mit der jede Sprechstunde beginnt. Ein andermal bekommt sie eine blonde Nebenbuhlerin vorgesetzt. »Er ist die Callas«, denkt Hanna, als Wiesengrund wieder einmal allen die Show stiehlt. Es ist der Abend, an dem er ihren Arm ergreift. »Die Hand auf meinem Unterarm sieht aus, als wäre sie dort vergessen worden.« Das ist wohl so etwas wie der Showdown in diesem Roman. Zumindest taucht die Szene in jeder Rezension auf. Die Interpretation lautet ausnahmslos: eine Liebe, die körperlos bleibt.
Doch der Roman handelt nicht ­allein von einer Erotik des Geistes und der Stimme; vielmehr treten die Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Antagonismen in der Beziehung zwischen Hanna und Wiesengrund deutlich zutage. Auch die Selbstermächtigung durch die Sprache, die sich Hanna mit Wiesengrunds Hilfe erkämpft, hat ihre Grenzen, denn letztlich hören wir Hanna nicht.
Während sich dieses Drama entfaltet, entblättert Wysocki nebenbei eine Typologie des Postfaschismus. Die ist zwar recht banal, aber gibt doch einen Eindruck von der Gesellschaft der sechziger Jahre. Da ist etwa der blonde und blauäugige Student, dem ­Wiesengrund aus Prinzip schlechte Noten gibt. Das Vertriebenenpärchen, bei dem Hanna wohnt, und das ­allein die Erinnerung an die verlorene Heimat beseelt. Der Professoren­kollege, der einst bei der SS war. Ein aufbegehrender Student.
In diesem Panoptikum bleibt jedoch eine Lücke: Auschwitz. Die ­Shoah wird nicht erwähnt und nur ein paar biographische Daten deuten an, wer überlebte, wer schwieg und wer mordete. Bei einem Sonntagsspaziergang mit ihren Vermietern in Frankfurt muss Hanna sich deren als Emigration verpackte Vertreibungsgeschichte anhören und dabei sofort an die Flucht Wiesengrunds vor den Nazis denken. »Die Deutschen sind anstrengend«, findet Hanna. »Sie und ihre persönlichen Verliese, sogar ihre Sonntage sind Verliese«, denkt sie. Diese Szene ist deshalb stark, weil sie die Sprachlosigkeit der postfaschistischen Gesellschaft, das Ringen um Worte, abbildet und nicht mit blumigen Metaphern zukleistert.
Der Roman endet mit der Rückkehr Hannas zu ihrem Vater. Sie wird in seine Fußstapfen treten und als Astrophysikerin arbeiten. Den Stern, den sie entdeckt, wird sie nach ihrem Professor benennen.

Gisela von Wysocki: Wiesengrund. Suhrkamp, Berlin 2016, 264 Seiten, 22 Euro