»Mensch, der war doch sonst nicht so leutselig«, wundert man sich. Aufgeschlossen, in sich ruhend – ja, er sei neuerdings sogar zu Kompromissen bereit, munkelt man. Die berüchtigte kurze Lunte, die pochenden Schläfen, all das sei Schnee von gestern. Da geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu! Also: »Wer zur Hölle sind Sie und was haben Sie mit unserem alten Kollegen gemacht?«
Eine Auszeit kann Wunder bewirken. Man reist (am besten nach Nepal oder Indien), speist (möglichst gesund) und sieht den Nervenenden dabei zu, wie sie sich erholen (allmählich). Nerven wachsen in der gleichen Geschwindigkeit wie Bärte. Zumindest in der richtigen Höhen- und Gemütslage, wo alles plötzlich Sinn ergibt und auf wundersame Weise miteinander zusammenhängt. Erst kurz vor dem Abstieg, dem Rücksturz in den Alltag, stellt sich die entscheidende Frage: Werden mit den Barthaaren auch die Nervenenden gekappt?
Ja, das werden sie. Die Gelassenheit des frisch rasierten Kollegen hielt nur wenige Tage an. Zwei Wochen und etliche Liter dieser schwarzen Säure, die wir hier Kaffee nennen, später, ist er wieder fast der Alte. Duldsamkeit und Gemütsruhe sind der alten Schärfe und dem Sarkasmus gewichen. Ein Glück! Denn anders hätte man ihn kaum gebrauchen können. Nicht in diesem Job. Nicht, wenn man ihn ernst nimmt.
Woanders wird man für diese Arbeit weggesperrt. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden weit über 100 Journalisten in der Türkei verhaftet. Deniz Yücel, Mitherausgeber der Jungle World, ist einer von ihnen. Am 27. Februar hat ein Richter Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet – wegen Aufwiegelung der Bevölkerung und Terrorpropaganda. Deniz ist in Einzelhaft, isoliert, die Zelle misst etwa sechs Quadratmeter.
Am 3. Mai, dem internationalen Tag der Pressefreiheit, wird es deshalb eine Kundgebung auf dem Pariser Platz in Berlin geben. Die Antilopen Gang, The Notwist, Die Sterne, Sultan Tunc, Christiane Rösinger, Andreas Dorau und viele andere mehr werden auftreten; Ilkay Yücel wird darüber sprechen, wie es ihrem Bruder im Gefängnis geht; unter anderem Oliver Welke und Udo Lindenberg werden Grußbotschaften über eine Videoleinwand senden. »#FreeDeniz. Meinungsfreiheit – ein Menschenrecht« ist eine Initiative von Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und #FreeDeniz. Mitorganisiert wird die Kundgebung von seinen (ehemaligen) Arbeitgebern Welt, Taz und Jungle World.
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