20 JAHRE Hedonismus: Protokoll der »Arbeitsgruppe ­Hedonismus«

AG Lustgewinn

Mit dem Taxi zur Hedonismus-AG oder der schmale Grat zwischen Reproduktion und Sucht. Protokoll des Versuchs, einem Mysterium auf die Schliche zu kommen.

Eine Doppelseite zum Thema Hedonismus füllen – nichts leichter als das. Wir sind schließlich die Experten! Ein paar Bier trinken und die besten Ideen aufschreiben: So ist die Jungle World doch immer entstanden.

Allerdings kann sich die AG (!) erst konstituieren, als alle aus dem Urlaub zurück sind (Gomera, Azoren, Snowboarden). Man trotzt vorbildlich dem Berliner Winter. Auch danach ist es schwierig, einen Termin zu finden, da sich viel Arbeit angesammelt hat. Kurz vor dem ausgemachten Treffen sagt ein Kollege ab, er schaffe es nicht. Alle anderen sind durch den Wind, die Stimmung ist gedrückt. Gerade erst wurde unser Freund, Kollege und Hedonismusexperte Deniz in der Türkei festgenommen. Uns ist gänzlich unhedonistisch zumute.
Nach zweieinhalb Bier sind wir immerhin beim Thema. Besser gesagt: Warum das mit dem Hedonismus so schwierig geworden ist. Und ob das mit dem Alter zu tun hat. Den einen fehlt die Zeit. Bei den anderen macht die Gesundheit schon nicht mehr mit. Bei den dritten droht die einstige fröhliche Zügellosigkeit in unfröhlichen Alkoholismus umzuschlagen. Sich den winterlichen Inselurlaub, Wellness und die Taxifahrt zur Hedonismus-AG zu gönnen, kann ja nicht alles sein. Und selbst das können so viele nicht. Sind Unsinn und Sinnlosigkeit zwei Seiten derselben Medaille? Ist die Midlifecrisis die Suche nach dem verlorenen Hedonismus? Ist das vierte Bier am Abend während der Woche schon hedonistisch? Wo gibt es überhaupt noch Drogen?

Die AG vertagt sich. Am nächsten Tag verkatert auf Arbeit, die Sichtung der Unterlagen lässt noch kein Hedonismuskonzept erkennen. Aber ein neuer Termin ist ausgemacht.

Am Tisch sitzen auch beim zweiten Versuch Stress, Sinnkrise, allgemeine Lustlosigkeit, Midlifecrisis, Schlafstörungen und akute Erschöpfung. Der Kollege, der es beim ersten Mal nicht geschafft hat, schafft es wieder nicht. Aber die anderen kommen diesmal sofort zur Sache. Die Jungle World, die stand natürlich schon immer für ­Hedonismus! Für eine Kapitalismus­kritik, die die angenehmen Seiten des Kapitalismus nicht verachtet. Für Konsumkritik, die Nutella, Coca-Cola und Fleisch nicht verbietet. Für Arbeit, die auch Leben ist. Manchmal Party. Und sogar Urlaub. Aber auch für Urlaub, der ­Arbeit ist. Und Leben, das Arbeit ist. Dafür, ein schönes Leben für alle zu fordern und für sich selbst nicht einzuhalten. Aber auch dafür, das Stre­ben danach nicht aufzugeben, trotz Hartz IV, Rollback und linker Unentspanntheit.

Wir suchen nach historisch-hedonistischen Vorbildern. Punks, aber nicht so schmutzig. Hippies, aber nicht so viele Blumen. Rainer Langhans, trotz allem? Uschi Obermaier, die die ­Burschen der K1 total verklemmt fand? Torsun, die Uschi Obermaier der 90er? Wowereit, »arm, aber sexy«? Oder doch eigentlich nur Harald Juhnke: »keine Termine und leicht einen ­sitzen«?

Beim dritten Treffen ist ein Kollege mit seinen ganzen Terminen durch­einander gekommen, sitzt aber, da man inzwischen in unhedonistischeren Gegenden mit geringerer Kneipendichte wohnt, zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nur mit der falschen Person, die nun unfreiwillig an der AG teilnehmen muss. Von Beruf Drogenberater ist sie zum Glück bestens qualifiziert. Der, der es bisher noch nicht geschafft hat, ist in Urlaub. Das Protokoll verzeichnet eine lange Liste an amtlichen Hedonismuskillern (darunter: »Protokolle«). Überraschenderweise lassen sich Überschneidungen mit der legendären Liste »1000 Gründe für Krawall« feststellen. Die Liste der Hedonismusbeförderer, auf die sich alle einigen können, fällt deutlich kürzer aus. Individuelle Hobbys und Vorlieben gelten nicht. Bei Luftmatratze denkt die eine gänzlich unhedonistisch ans Campen, die andere aber an das Plantschen in den sanften Wellen einer spanischen Bucht. Ist »Ausschlafen« hedonistisch oder eigentlich nur selbstverständlich? Kommt »Bieryoga« auf die Liste oder nur das noch zu entwickelnde »E-Yoga«? Konsens besteht, als die Hedonismusschwelle beim Bier erreicht ist, ledig­lich über »Durchfeiern«, »Abtauchen«, »Cruisen«, »Taxi zur Arbeit« und »Schwerelosigkeit«.

Dafür sind die im Laufe der Sitzungen diskutierten Thesen zur Perfektion gereift: Hedonismus ist der schmale Grat zwischen Reproduktion und Sucht. Hedonismus ist leider eine Klassenfrage. Alter und Hedonismus sind zum Glück kein Widerspruch. Das hedonistische Zeitalter endete mit der Einführung von Hartz IV und verklang mit dem letzten Bummbumm des Techno. Die Linke konnte dem nichts entgegensetzen. Nun sind wir von Posthedonismus umzingelt. Aber wir suchen es weiter: das Schöne, das Lustvolle, das Unvernünftige und Zügellose, und zwar für alle.