Zur Tabuisierung von Einsamkeit

Das Alleinsein der vielen

Seite 2 – Kapitalismus macht einsam

 

Es sind eher strukturelle Veränderungen der Gesellschaft, die das Streben nach Autonomie an die Stelle der Familienbande gesetzt haben. Wobei auch niemand zurück zu einem Zustand möchte, in dem man aus der Not heraus mit der Schwiegermutter oder dem Schwiegervater in einem Haus wohnen musste. Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus die sozialen Bindungen zersetzt hat, ist auch nicht neu. Der Medienkonsum ist ein weiterer ­Faktor.

 

Nach der Idee aus Großbritannien kamen auch aus Deutschland For­derungen, sich des Themas anzunehmen.

 

Viele ehemalige DDR-Bürger verweisen bis heute darauf, dass die ­sozialen Kontakte im Realsozialismus intensiver waren. In der Mangelwirtschaft waren die Menschen stärker aufeinander angewiesen. Der Grad an individueller Freiheit scheint gekoppelt an einen entsprechenden Verlust von Bindungen.

Prekäre Lebensbedingungen innerhalb einer Wohlstandsgesellschaft bedeuten allerdings keinesfalls einen Zuwachs an Sozialkontakten. Im Gegenteil. Armut erhöht das Einsamkeitsrisiko genauso wie Alter und Krankeit drastisch. »Wir müssen in Zukunft auch in der Politik auf Nachhaltigkeit achten. Menschen, die keinen Job haben, dürfen wir beispielsweise nicht zwangsläufig zumuten, quer durch die Republik umziehen zu müssen.

Dann haben sie eventuell einen Job, aber keine sozialen Be­züge mehr. So werden von Einsamkeit bedrohte Menschen doppelt und dreifach entwurzelt«, sagt Schobin. Die Situation arbeitsloser, kranker oder alter Menschen ist besonders kritisch. Gerade Arbeitslose sind durch ihre mangelnde berufliche Integration deutlich stigmatisiert. Ein gesellschaftlicher Ausschluss bedingt den anderen und verstärkt die Isolation. Wenn das Geld für den Theaterbesuch nicht reicht, ist man nicht nur kulturell abgehängt, sondern auch sozial.

In Deutschland fühlt sich der Studie von Maike Luhmann zufolge jeder Fünfte über 80jährige einsam. Zum einen ist das durch den Tod vieler Freunde und Familienangehörigen in diesem Lebensabschnitt bedingt, zum anderen liegen die Ursachen aber in einem völlig unzureichenden Angebot von humanen und lebenswerten Orten für den letzten Lebensabschnitt. Pflege im Minutentakt und völlig herzlose Altersheime werden die Einsamkeit nicht verkleinern. »In Deutschland sollten wir dieses Thema auch schnell aufgreifen.

Die hohen Zahlen von einsamen Menschen fallen auch bei uns zusammen mit einer alternden Gesellschaft.

Und obwohl das allen bewusst ist, gibt es wenig politische Strate­gien für eine alternde Gesellschaft«, formuliert Schobin das Dilemma. Nach der Idee aus Großbritannien kamen auch aus Deutschland For­derungen, sich des Themas anzunehmen. »Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen«, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der Bild-Zeitung. Und ­Diakonie-Präsident Ulrich Lilie forderte: »Einsame Leute wieder in die Gesellschaft zu holen, ist eine Aufgabe, die man nicht einfach kommer­ziellen Anbietern wie Facebook oder Partnerschaftsbörsen überlassen darf.«