Aus was Menschen gemacht sind
Christiane Rösinger steht mit einigen ihrer Familienmitglieder, Freunden und Bekannten auf einem Feld in Baden-Württemberg und hat keine Lust. Die Sechsjährige soll Spargel ernten und langweilt sich dabei gewaltig. Ein Lied fällt ihr ein. Rösinger bittet nicht erst um Aufmerksamkeit, sondern legt sogleich los. So laut sie kann, singt sie »Downtown«. Die englische Popsängerin Petula Clark beschreibt in dem Lied einen Ort, an dem die Neonreklame schön aussieht und der Lärm, den die Autos machen, wie Musik klingt. Alle und alles warte downtown auf dich, singt Clark, nur kein stummes Gemüse.
»Downtown« ist also ganz sicher kein Ort wie ein Spargelfeld. Ihr eigenes downtown erschafft sich Rösinger stattdessen ein paar Jahre später, Mitte der Achtziger, an einem sich dafür ähnlich schlecht eignenden Ort: in Berlin-Kreuzberg. Denn zu der Zeit, als Rösinger dorthin umzieht, liegen die Straßen wie ausgestorben da und die Menschen, die sie bewohnen, wirken schon in mittleren Jahren so grau und alt wie viele der dort stehenden Häuser, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben.
Doch in der Köpenicker Straße, nahe der Westberlin damals noch umgebenden Mauer, entdeckt Rösinger das Fischbüro. Der Verein residierte in einem Ladengeschäft. Wer hineinging, verwandelte sich von einem unscheinbaren Menschen in eine schillernde Figur. Im Fischbüro war anscheinend alles möglich: Vorträge über das Paarungsverhalten von Stichlingen, Lesungen aus den Tagebüchern von Teenagern, improvisierte Fernsehsendungen, Modenschauen für Herr und Hund und auch immer wieder: Musik. Als Klangforschung, als Soundcollage, als Wasserglaskonzert oder in Form von frühen Housepartys. Eines Tages kriegt Rösinger mit, dass ein Freund loszieht, um ein »Demo« aufzunehmen, und wird neugierig.
Die Erfahrungen im Fischbüro liefern Rösinger die Erkenntnis, dass es nichts gibt, aus dem sich nicht irgendetwas machen lässt. Mit der Sängerin und Autorin Almut Klotz eröffnet sie in den Neunzigern die Flittchenbar am Berliner Ostbahnhof und betreibt das Label Flittchen Records. Sie schreibt Artikel für Zeitungen und jede Geschichte, die ihr unterkommt, schreibt sie auf, sei es die von einer alten Frau, welche die Erzählerin zwingt, schwere Einkaufstüten über lange Strecken in bedrohliche Gegenden zu tragen, sei es der Bericht von einer Reise zum Eurovision Song Contest in Baku. Rösingers Geschichten sind bis heute in vier Büchern erschienen. Seit vielen Jahren konzipiert und moderiert sie Veranstaltungen in der Flittchenbar (mittlerweile am Kreuzberger Kottbusser Tor beheimatet), gibt Sprachunterricht, hat nebenbei ein Germanistikstudium absolviert und eine Tochter allein großgezogen.
Die Songs von Britta sind melancholisch, oszillieren zwischen dem Gefühl, entspannt-schön rumzuhängen, und einem unerhörten Alleinsein.
Musik war also nie und und ist bis heute nicht das Einzige, was Rösinger treibt und anzieht. Songschreiben, Plattenproduktionen und Konzerttouren stehen seit den späten achtziger Jahren von Zeit zu Zeit im Vordergrund. Damals gründete Rösinger mit Klotz die Lassie Singers und schickte ebenfalls Demos los. Nachdem sämtliche Indielabels abgesagt hatten, wandten sich die Lassie Singers an eine große Plattenfirma und wurden mit Kusshand empfangen: Sie avancierten zu Stars. Rösinger und Klotz gelangen Texte, die klingen, als hätten Ingrid Caven und Julie Burchill gemeinsam Verse geschrieben: »Jeder lebt in seiner eigenen Welt / Aber meine ist die richtige.« Nach vier Studioalben trennten sich die Lassie Singers 1998, Rösinger machte nahtlos mit der Band Britta weiter. Die Songs sind melancholisch, oszillieren zwischen dem Gefühl, entspannt-schön rumzuhängen, und einem unerhörten Alleinsein.
Britta, benannt nach ihrer damaligen Schlagzeugerin Britta Neander, veröffentlichten 2006 ihre letzte Platte, auf vier Alben brachten sie es ingesamt. Die im September erscheinende Compilation »Best of Britta« leitet ihr Livegitarrist Andreas Spechtl mit einem Text hervorragend ein, in dem er die Wichtigkeit des Werks von Neil Young für die Haltung und die Musik von Rösinger betont. In der Tat wirken manche ihrer Lieder, als würde Young fragen und Rösinger antworten: »Tonight’s the Night?« – »Depressiver Tag«. »When You Dance I Can Really Love?« – »Ich glaub, ich hab ein Faible für Idioten«. »Keep on Rockin’ in the Free World!« – »Die traurigsten Menschen von ganz Berlin«.
Zu den traurigsten Menschen gehören in dem beschleunigten Bossa-Nova-Lied von Britta auch zwei, die nach einer durchfeierten Nacht herauskriegen möchten, ob sie noch etwas Zeit miteinander verbringen wollen. Sie denken darüber nach, während sie zusammen »die ungelesenen Flyer und die umgeflogenen Flaschen« betrachten, und sie überlegen weiter, während sie die verwüstete Bar oder Wohnung verlassen und erst »ein hohler Bahnhof« und dann »ein leerer Parkplatz« ihren Weg kreuzen. Sie könnten sich lange küssen und danach eine Band gründen. Genausogut könnten sie sich aber auch mit ein paar sehr netten Worten voneinander verabschieden, und jeder ginge allein weiter in den Morgen hinein. Die unterschiedlichsten Möglichkeiten liegen in der Luft, und das lässt beide unfassbar klar sehen.
Wo immer sie hinkommen, erscheint alles neu. Dadurch fallen die klangvollen Namen wie »Straße der Pariser Commune« ebenso auf wie der des Imbiss am Kottbusser Damm, der »International« heißt. An jedem dieser Plätze denkt sie »ganz kurz, dass ich jetzt glücklich bin«. Er ahnt ihre Gedanken, will ihr ein Bonmot schenken und sie damit anspornen: »Wir sind die traurigsten Menschen von ganz Berlin«. Er lächelt, während er spricht, und eigentlich spricht er nicht, sondern jubelt. Tatsächlich ist er ganz und gar nicht traurig, und sie ist es erst recht nicht. Beide nehmen sich vielmehr heraus, sich zu feiern, sich und das schlafende oder morgenmuffelige Kreuzberg und den Rest der Stadt.
Rösingers Songs beinhalten immer wieder solche Wendungen, und die entfalten eine erstaunlich lang anhaltende Wirkung. Wo Rösinger auch hinkommt, überall versammelt sie Leute, das Publikum auf ihren Lesereisen ebenso wie die Gäste bei einer ihrer Galas in der Flittchenbar im Kreuzberger Südblock, und nicht zuletzt die Mitstreiterinnen der Band Britta. Seit deren Anfängen zählt zu ihnen die Bassistin und freundliche Horror-Forscherin Julie Miess. Nach dem Tod von Britta Neander hat Sebastian Vogel das Schlagzeug übernommen und Barbara Wagner spielt eine auffällige zweite Gitarre. Alle Mitglieder spielen auch in anderen Bands und haben viel zu tun, aber für Britta nehmen sie sich immer und immer wieder Zeit, zum Beispiel, um im Oktober zusammen auf Tour gehen. Offensichtlich gibt es bei den Beteiligten einen nicht zu stillenden Drang, weiter herauszufinden, wie der Umgang von Menschen miteinander aussieht, welche Schwierigkeiten er macht, welche Löcher er ins Herz reißt, was für Rasereien er in Gang setzt und wie abgrundtief traurig und gleichzeitig lustig er sein kann. Die Platten von Britta handeln also von dem, aus was Menschen gemacht sind. Das ist nicht besonders schön formuliert, und leider kann man das auch nicht besser erklären. Aber immerhin weiß man, dass Rösinger wahre, anrührende Lieder darüber schreiben kann, was es bedeuten könnte. Und dieses Wissen hilft sehr.
Britta: Best of Britta (Staatsakt)