Aus dem Dachsbau
Alexander
1996 stirbt Alexander mit sechsundzwanzig Jahren an einem Gehirntumor. Wir waren fast zwanzig Jahre befreundet.
Ich lerne ihn zunächst nur widerwillig kennen, er ist der jüngere Sohn von Freunden meiner Eltern. Meine Mutter muss mich zu ihm schleppen, ich habe Angst vor neuen Bekanntschaften, bin voller Ablehnung. Doch als ich ihn sehe, bin ich sofort verliebt. Er ist wie ich, er ist mein Spiegel, aber er hat ein heiteres, aufgeschlossenes Gemüt. Es gibt kaum einen Menschen, den er nicht in Sekunden bezaubert.
Alexander scheint völlig eins mit seiner Umgebung zu sein, wie ein Fisch im Wasser. Ich fürchte mich vor dem Mobiliar im Haus seiner Eltern. An den Wänden hängen Zeichnungen von Menschen, die sich in Vögel verwandeln, aus ihren Hälsen wachsen Klauen, und ihre Arme gehen in Gefieder über.
Alexander nimmt mich an der Hand und führt mich in sein Zimmer. STAR WARS ist noch nicht in Deutschland erschienen, aber Alexander besitzt bereits ein Lichtschwert, eine beleuchtete Plastikröhre mit Knauf. Es stellt sich heraus, dass er genau wie ich gerne Comics zeichnet. Die nächsten Jahre werden wir damit verbringen, Geschichten unserer selbst ausgedachten Comicfiguren »Flippi und Flappi« aufzuzeichnen. Die beiden sind Dinosaurier, sie reden in einer Art Babysprache, haben aber Superkräfte.
Wir legen uns Handtücher oder Decken als Umhänge um und klettern auf den Essigbaum im Garten meiner Eltern. Wir sehen uns alte Monsterfilme im Fernsehen an, wenn wir beieinander übernachten dürfen: »Tarantula«, »Formicula«, »Panik in New York«, »King Kong«.
Unsere Eltern stecken uns in den Tennisclub und in den Töpferkurs, doch wir haben nur uns, unsere Freundschaft und die Dinosaurier im Kopf.
Alexander spielt jetzt Schlagzeug, er spielt nicht gut, aber dafür zumeist mit nacktem Oberkörper. Er hat schwarz gefärbte schulterlange Haare, manchmal trägt er ein Stirnband. Er ist ziemlich schön, und er weiß es auch. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon von Musik getrieben.
Musikkritiken werden mir zur ästhetischen Theorie, in meinem Keller führe ich imaginierte Interviews mit mir selbst.
Später, als Teenager, entdecken wir Punk. Ich ziehe in den Keller im Reihenhaus meiner Eltern, spiele jeden Tag Gitarre und komponiere Songs. Wir gründen eine Band, gemeinsam mit Hendrik Hallersleben, dem Sohn des Schuhmachermeisters Franz Hallersleben. Auch er wohnt im Keller, hat dort jedoch viel mehr Platz, so dass wir bei ihm proben. Die Band heißt »Die Kranken«. Alexander ist unser Sänger, denn er ist hübsch und charismatisch und kann kein Instrument spielen. Er grölt die Lieder, die ich mir ausdenke, selbstbewusst ins verbeulte Mikrofon.
»Fischkopfmädchen«.
»Husten, Halsweh, Heiserkeit«.
Wir sind Fans der Goldenen Zitronen. Alexander und ich klingeln an ihrer Tür in der Buttstraße am Fischmarkt, als wir Hamburg per Interrail besuchen. Natürlich öffnet uns niemand.
An einem Sommertag macht Alexander mit Hendrik einen Ausflug in den Europapark Rust, wo sie herumrandalieren, Dosenbier trinken und das Geld aus dem nachgemachten Trevi-Brunnen im italienischen Viertel stehlen. Ich bin krank an diesem Tag. Ich bin oft krank in dieser Zeit, meistens habe ich Mandelentzündung, die Lymphknoten unter meinem Kiefer schwellen an wie zwei Tischtennisbälle.
Mit unserer zweiten Band, BIG LEGGY, benannt nach dem Haysi-Fantayzee-Hit »John Wayne Is Big Leggy«, spielen wir ein Lied, das von Lymphknoten handelt. Mittlerweile singen wir auf Englisch, die Musik hat sich verändert, wir orientieren uns an Bands wie Dinosaur Jr. »Lymphe« ist ein kleiner Hit im Ortenaukreis. Wir treten im Jugendkeller der Anne-Frank-Schule auf, dem sogenannten »Kessel«, dessen Mitarbeiter wir sind. Alle Punks in Offenburg sind Mitarbeiter des »Kessel«. Alexander spielt jetzt Schlagzeug, er spielt nicht gut, aber dafür zumeist mit nacktem Oberkörper. Er hat schwarz gefärbte schulterlange Haare, manchmal trägt er ein Stirnband. Er ist ziemlich schön, und er weiß es auch. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon von Musik getrieben.
Musikkritiken werden mir zur ästhetischen Theorie, in meinem Keller führe ich imaginierte Interviews mit mir selbst.