Die Linke und Europa

Transnationalismus oder Barbarei

Die linke Kritik an der Europäischen Union spielt den Rechten in die Hände. Was die Linke an Europa hat, muss sie verteidigen – auch an der Wahlurne.

Nun stehen sie wieder in den Fußgängerzonen. Vor der Europawahl am 26. Mai streiten rechte Gegnerinnen und liberale Freundinnen der Euro­päischen Union (EU) darüber, ob nun deren Verteidigung oder Abwicklung das Gebot der Stunde sei. Die radikale Linke steht derweil hilflos abseits. Insgesamt übt sie sich, wenn sie die Wahlen denn überhaupt zur Kenntnis nimmt, im Jargon des Einerseits-Andererseits. So verhasst ihr die Rechte ist, so groß ist die Verachtung für die »neoliberale EU«, für Spardiktat und Abschottungspolitik. Das Problem daran ist jedoch, dass die Linke die berechtigte Kritik an der Politik in der EU an deren grenzübergreifender Form festmacht. Auf diese Weise macht sie sich unfreiwillig zum Anhängsel nationalistischer »Krisenlösungen«.

Linker Jargon der Äquidistanz hat hierzulande Tradition. Schon Marx und Engels schrieben leidenschaftlich da­gegen an. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« kritisierten sie die falsche Prinzipientreue des »wahren« Sozialismus sehr deutscher Provenienz. Dieser würde verkennen, dass die Bourgeoisie glücklicherweise die »nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker« bereits »mehr und mehr« zunichte gemacht habe. »Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder« sei »eine der ersten Bedingungen der Befreiung des Proletariats«.

Die rechte Propaganda gegen Europa ist auch eine feindliche Übernahme linker Neoliberalismuskritik.

Selbstredend ist die EU nie das humanistische Friedensprojekt gewesen, als das sie von Liberalen und Grünen bejubelt wird. Sie war stets auch der Versuch der führenden europäischen Staaten, politisch mit dem Stand der ökonomischen Konkurrenz auf dem Weltmarkt Schritt zu halten – zuletzt unter deutscher Dominanz. Und da die Konkurrenz im globalen Kapitalismus schärfer wird, macht sich die autoritäre Verhärtung der politischen Form inzwischen nicht nur in Ungarn, Polen und Österreich bemerkbar, sondern auch in Frankreich unter Präsident Emmanuel Macron. Ebenso ist richtig, dass 20 Jahre neoliberale Politik erst die Grundlage für den Aufstieg der Rechten mit ihren nationalen Ermächtigungsphantasien geschaffen haben.

Dennoch ist es keine gute Idee, sich aus der Auseinandersetzung herauszuhalten. Zum einen ist die rechte Propaganda gegen Europa auch eine feindliche Übernahme linker Neoliberalismuskritik. Zum anderen sind es vor allem die Nationalstaaten, die die autoritäre Politik vorantreiben, sie ist kein Resultat des Bürokratismus einer vermeintlichen »EUdSSR«, als die AfD-Gründer Hans-Olaf Henkel die Europäische Union einmal bezeichnete.

Was hingegen an der EU gut ist, ist jener rechtliche, politische und soziale Überschuss, der über ihren Zweck als Beute­gemeinschaft auf dem Weltmarkt hinausgeht. Er wurde parlamentarisch und außerparlamentarisch hart erkämpft – oft gegen das erklärte Ziel von Kommission und nationalen Regierungen, die EU zum »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«, wie es 2000 in der Agenda von Lissabon hieß. Was die europäischen Institutionen in Sachen Grundrechte, Gleichberechtigung, Klimaschutz und Bewegungsfreiheit erreicht haben, sollte man daher als Erfolge der postnationalen Öffentlichkeit Europas benennen und verteidigen. Grenzübergreifende Grundrechte und Institutionen, so ungenügend sie sind, unter dem Weltmarkterfolg des Standortes Europa zu subsumieren – wie das Teile der antinationalen Linken tun – ist hingegen schlechter Funktionalismus.

Die emanzipatorischen Errungenschaften der EU dem neuen Faschismus der Le Pens, Straches und Gaulands zu opfern, ist keine linke Option.

Wie man es auch wendet: Die emanzipatorischen Errungenschaften der EU dem neuen Faschismus der Le Pens, Straches und Gaulands zu opfern, ist keine linke Option. Der Plan der AfD, nicht etwa die Rüstungsexporte, den Klimakiller Kohle oder die Abschottungsagentur Frontex, sondern ausgerechnet das EU-Parlament abzuschaffen, zeigt, wohin die Reise geht. Dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zufolge werden die liberalen Demokratien »in den kommenden Jahrzehnten nicht imstande sein, ihre globale Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten«. Die Erbarmungslosigkeit der Konkurrenz stützt zwar seine Ansicht, die Zwänge des globalen Marktes wird aber auch er nicht bändigen. Was wohlgemerkt ohnehin nicht das Ziel der neuen Faschisten ist. Für sie ist nur wichtig, den autoritären Staat, den sie sich erträumen, in einem Europa der Kleinstaaterei dann als Sachzwang verkaufen zu können.

No way out
Angesichts der Sympathien für den britischen EU-Austritt und andere Souveränitätsfiktionen innerhalb der Linken ist es notwendig, daran zu erinnern, dass auch ein »linker« Nationalismus gegen die EU kein Einstiegsprojekt für mehr soziale Gerechtigkeit ist, wie sich das etwa Sahra Wagenknecht und Jean-Luc Mélenchon vorstellen. Seit der Griechenland-Krise müsste eigentlich klar sein, dass »Unabhängigkeit« in der Welt des Kapitals lediglich bedeutet, sich der globalen Konkurrenz allein und auf eigenes Risiko zu stellen. Auch wer Rohstoffe im Angebot hat oder sich als Reiseland verkauft, sieht sich schon bald den unfreundlichen Schwankungen der Märkte ausgeliefert. Frustra­tionen des nationalen Hoch- und Gemeinschaftsgefühls sind daher unvermeidlich, sie sind der Nährboden des immer ein wenig verzweifelten und meist leicht reizbaren Alltagsnationalismus der Separatisten.

Wenn Linke in Zeiten, in denen die Rechten stark sind, auch noch in den Chor der »EU-Kritik« einstimmen, unterstützen sie die gefährliche und im schlechten Sinne populistische Illusion, dass kapitalistische Herrschaft von draußen, aus dem Abstrakten und Komplexen kommt. Wohin solche Schwundstufen oppositionellen Bewusstseins führen, zeigt das Drama in Großbritannien. Klassenübergreifend geht es dort seit dem Votum für den EU-Austritt nur noch um die Frage, wie man neue Mauern hochziehen und welchen Gruppen man die Sozialhilfe zuerst kürzen kann. Von den versprochenen Verbesserungen (»mehr Geld für das Gesundheitssystem«) ist im Vereinigten Königreich jedenfalls nichts zu sehen.

Nicht die Auflösung der EU, sondern ihre Überschreitung im Sinne einer Transnationalisierung sozialer Bewegungen muss das Ziel sein.

Vor allem gibt es keinen Anlass für die von Insurrektionalisten wie von anderen Linken gleichermaßen genährte Hoffnung, dass der Zerfall der EU die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Weder würden die Mechanismen staatlicher Herrschaft, die Macht der Konzerne noch die Zwänge nationaler Standortkonkurrenz geschwächt. Eine Linke, die getreu dem in Großbritannien geflügelten Spruch »I just voted Brexit to piss off the liberals« vorgeht, erhebt daher bestenfalls die eigene Bedeutungslosigkeit zum Programm. Schlimmstenfalls geht sie erst im Chor der rechten Europakritik auf – und dann unter.

The only way out is through
Heute ist mit Marx und gegen Lenin festzuhalten, dass die Frage nationaler Selbstbestimmung endgültig keine emanzipatorischen Antworten mehr hervorbringt. Das hat Konsequenzen für die Linke. Nicht die Auflösung der EU oder die Verteidigung ihres neoliberalen Status quo, sondern ihre Überschreitung im Sinne einer Transnationalisierung sozialer Bewegungen und Institutionen muss das Ziel sein. Der demokratische Konföderalismus der Kurden, Internationaler Frauenstreik, solidarische Städte, die klimapolitischen Bewegungen »Extinction Rebellion« und »Fridays for Future« sowie Netzwerke wie »Beyond Europe« mögen nur Anfänge sein, aber sie weisen die Richtung. Es wird Zeit, dass die europäische Linke auch strategisch zu diesem Problemniveau aufschließt.

Jenseits dieser sympathischen Gehversuche muss die Linke die realen Machtverhältnisse im Blick behalten. Das heißt nicht zuletzt, sich die Frage vorzulegen, welche Parteien der Kapitalfraktionen sie übergangsweise strategisch unterstützten kann, damit die Rechten die EU nicht in ein völkisch-nationales Projekt verwandeln. Konkret bedeutet das, die »EU-Kritik« den Rechten zu überlassen und sich im übrigen die Hände schmutzig zu machen. Wahlen wie die zum Europaparlament müssen als politische Interventionsmöglichkeit genutzt werden: durch die Wahl von linksdemokratischen, pro­europäischen Parteien sowie durch den außerparlamentarischen Kampf gegen europäische Rechte und nationale Regierungen. Nur durch solche praktische Parteinahme wird die Linke den reaktionären Phantasien eines Rückzugs ins Nationale ebenso wie der organisierten Traurigkeit der real existierenden EU entgegenwirken können. Die rechte EU-Kritik wäre dann auch viel einfacher zu kontern: ­EUdSSR? Mehr davon, bitte!

Der Autor ist Mitglied der Gruppe Theorie Organisation Praxis (TOP) Berlin.