Die Bundesregierung hat den ­Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger weiter eingeschränkt

Freizügig in die Obdachlosigkeit

Der Zugang zu Sozialleistungen ist für ausländische EU-Bürger in Deutschland äußerst eingeschränkt. Die Bundesregierung hat das restriktive Vorgehen jüngst noch verschärft.

»Die Frau im Jobcenter war für mich keine Hilfe«, erzählt Gabor T. * »Sie sagte, ALG II bekäme ich nicht, ich solle dorthin zurückgehen, wo ich hergekommen sei.« Gemeint ist Ungarn, wo der mittlerweile 28jährige gelebt hatte, bis er im Jahr 2011 seiner damaligen Freundin nach Berlin folgte. Nach der Trennung sei er mal hier, mal da untergekommen, zuletzt habe er mit drei an­deren Männern in einem Zimmer in einem Hostel gewohnt. Etwa 200 Wohnungen habe er zuvor besichtigt, jedoch nie eine Zusage erhalten, sagt T.

Der Anteil arbeitssuchender EU-Bürger an den Wohnungs- und Obdachlosen ist in Deutschland überproportional hoch. Nach aktueller Schätzung beträgt er in Großstädten etwa 50 Prozent.

Vera L.* aus Bulgarien kam nach eigenen Angaben im Sommer 2018 nach Berlin und lebte in der Wohnung ihrer Arbeitgeberin. Als sie nach drei Monaten ihre Arbeitnehmerrechte durchsetzen wollte, wurde ihr gekündigt und sie verlor auch die Wohnung. Danach zog sie von Notunterkunft zu Notunterkunft.

Der Tschechin Alina P.* blieb dies nur erspart, weil sie bei ihren Kindern wohnen konnte. Sie war 2016 nach Leipzig gekommen und hatte ihren Schil­derungen zufolge zwar zunächst keine Arbeit gefunden, jedoch Sozialhilfe erhalten. Diese wurde ihr Anfang 2017 von einem auf den anderen Tag ersatzlos gestrichen.

Der auf Sozialrecht spezialisierte Leipziger Rechtsanwalt Dirk Feiertag vertritt Alina P. und kennt viele solcher Geschichten. »Bis Ende 2016 war die Rechts­lage so: Wer keine Arbeit fand, konnte spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt Sozialhilfe beziehen«, sagt er. »Doch dann verlängerte Andrea Nahles als Bundessozialministerin den Zeitraum des Ausschlusses von der So­zialhilfe auf fünf Jahre. Manche stürzt das in massives Elend.«
Nahles (SPD) sagte damals anlässlich der Verabschiedung des betreffenden Gesetzes: »Wer noch nie hier gearbeitet hat und für seinen Lebensunterhalt auf staatliche finanzielle Unterstützung aus der Grundsicherung angewiesen ist, für den gilt der Grundsatz: Existenzsichernde Leistungen sind im jeweiligen Heimatland zu beantragen.« Die an der Regierung beteiligte CSU pochte darauf, dass eine »Einwanderung in deutsche Sozialsysteme« verhindert werden müsse.

Das reichte den Unionsparteien und der SPD offenbar nicht aus: Anfang Juni verabschiedete der Bundestag das von der Bundesregierung eingebrach­te »Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch«. emnach erhalten neu zugezogene EU-Bürgerinnen und –Bürger ohne inländische Einkünfte aus Erwerbsarbeit in den ersten drei Monaten pauschal auch kein Kindergeld mehr, was Juristen etwa vom Deutschen Anwaltverein für eu­roparechtswidrig halten.

2017 hatten alle EU-Mitgliedstaaten die »Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR)« unterzeichnet. Zu den 20 darin festgelegten Mindeststandards gehören neben einer generellen sozialen Sicherung auch Maßnahmen gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit wie die Berechtigung zum Bezug von Sozialwohnungen oder Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung, der Schutz gegen Zwangsräumungen und das Bereitstellen angemessener Unterkünfte. Gerade für arbeitssuchende Bürger aus anderen EU-Ländern wäre mehr sozialer Schutz wichtig, denn ihr Anteil an den Wohnungs- und Obdachlosen ist in Deutschland überproportional hoch. Nach Schätzung der Hilfsorganisation Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. beträgt er in Großstädten etwa 50 Prozent.

Rechtsanwalt Feiertag sieht die deutsche Gesetzgebung in der Pflicht. Zwar hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen festgestellt, dass der Ausschluss von Sozialleistungen europarechtskonform ist. Doch diese Urteile sagten nichts darüber aus, ob der Ausschluss von jeglichen Sozialleistungen mit dem deutschen Recht vereinbar sei, sagt Feiertag. Nach Ansicht des Rechtsanwalts verstößt die gegenwärtige Praxis gegen das Grundgesetz. Zur Begründung verweist er auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2010 und 2012. Darin folgerten die Verfassungsrichter aus Artikel eins und Artikel 20 des Grundgesetzes das »Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« und stellten klar, dass dazu unter anderem eine beheizte Unterkunft gehöre. Dieses Grundrecht stehe ausdrücklich »deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepub­lik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu«.

Als Freitag vor dem Sozialgericht Leipzig seine Mandantin Alina P. vertrat, argumentierte er daher mit der Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses von der Sozialhilfe. Die Richter wollen das von Nahles eingebrachte Gesetz deshalb dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorlegen. Über den Ausschluss von ALG-II-Leistungen wollen die Verfassungsrichter aufgrund einer Vorlage des Sozialgerichts Mainz bereits in diesem Jahr entscheiden.
Gesetze helfen jedoch nicht, wenn sie von den Behörden nicht befolgt werden. Obwohl es geltendes Recht ist, dass arbeitende EU-Bürger zumindest Anspruch auf aufstockendes ALG II haben, werden manche Antragsteller von Sachbearbeitern weggeschickt. Gabor T., der einen Minijob als Zeitungsausträger hatte, musste drei Jahre lang vor Gericht prozessieren, bis ihm das ALG II zugesprochen wurde, das ihm die Sachbearbeiterin des Jobcenters vorenthalten hatte.

Auch die Sozialämter verweigern immer wieder Hilfe, die sie gewähren müssten. Wer keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat und obdachlos ist, muss nach ständiger Rechtsprechung zumindest nach Polizei- und Ordnungsrecht in einer Unterkunft für Wohnungslose untergebracht werden, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus. Nächtigungsmöglichkeiten in Kälteschutzprogrammen genügen den Anforderungen an eine solche Unterkunft nicht, auch darf nicht grundsätzlich auf eine mögliche Rückreise verwiesen werden.

Doch in vielen Städten und Gemeinden wird der Anspruch auf Unterbringung nicht durchgesetzt, werden Hilfe suchende EU-Bürger an Einrichtungen der Kältehilfe verwiesen oder aufgefordert, in ihr Herkunftsland zurückzureisen. In manchen Fällen geschieht dies auch mit Wissen und Wollen der Aufsichtsbehörden, wie etwa in Hamburg, wo obdachlose EU-Bürger in der jüngeren Vergangenheit manchmal selbst in Notunterkünften der Kältehilfe nicht aufgenommen wurden.

Die zuständige Berliner Sozialsenatsverwaltung gibt auf Anfrage zwar an, dass ein Anspruch auf ordnungsrechtliche Unterbringung »ein Muss und kein Kann« sei. Doch auch in der Hauptstadt verweisen manche Ämter obdachlose EU-Bürger an Einrichtungen der Kältehilfe, anstatt sie in regulären Unterkünften unterzubringen. Dies geht aus einer kleinen Anfrage des armutspolitischen Sprechers der Frakti­on der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Stefan Ziller, hervor. »Es herrscht das europäische Recht auf Freizügigkeit, das aber nicht hinreichend ausgestaltet wurde«, kommentiert die Sozialsenatsverwaltung die Lage. »So bleiben nicht viele Möglichkeiten, nachhaltig zu helfen und Perspektiven zu bieten.«

Hilfe in der Not gibt es meist nur von privaten Organisationen, wie in Berlin von der »Neue Chance gGmbH«, die Menschen wie Gabor T. dabei hilft, ihre Wohnungslosigkeit zu beenden, sowie vom Projekt »Frostschutzengel« und vom »Berliner Beratungszentrum für Migration und gute Arbeit« (Bema), die eine kostenlose Sozialberatung in mehreren Sprachen anbieten. Sie haben mit unzureichender Finanzierung und der teils unklaren Rechtslage zu kämpfen. Strittig ist etwa, wie lange eine Unterbringung nach Polizei- und Ordnungsrecht dauern darf. »Mein Eindruck ist, dass es aktuell wenig Rechtssicherheit gibt, dadurch ist eine einheitliche Handhabung nur schwer möglich«, sagt Nora Marwig von »Neue Chance«.

Gabor T. hatte am Ende Glück. Er konnte mit Marwigs Unterstützung Anfang April seine erste eigene Wohnung beziehen. Vera L. gewann mit Hilfe des Bema die Klage vor dem Arbeitsgericht und konnte Anfang Juni in eine eigene Wohnung ziehen. Alina P. hat inzwischen eine Arbeit gefunden, auf Sozialleistungen ist sie nicht mehr angewiesen. Dennoch könnte sich angestoßen durch ihren Fall das Leben vieler EU-Bürger in Deutschland verbessern – wenn das Bundesverfassungsgericht den jahrelangen Ausschluss von der Sozialhilfe für verfassungswidrig erklärt.

* Namen von der Redaktion geändert.