NS-Erinnerungspolitik in Litauen

»Nachfragen zur Judenermordung sind nicht erwünscht«

Der Publizist Evaldas Balčiūnas im Gespräch über den Holocaust und die staatliche Erinnerungspolitik in Litauen.

Mitte Mai verurteilte ein Gericht in Klaipėda den lokalen Vorsitzenden der Partei Union litauischer Russen, Wjatscheslaw Titow, zu einer Geldstrafe von 12.000 Euro. Er soll das Andenken eines Toten verunglimpft, zum Hass angestachelt und außerdem Verbrechen der Sowjetunion gegen Litauen geleugnet oder falsch dargestellt haben. Worum ging es dabei genau?
Titow hatte sich als Abgeordneter des Stadtrats gegen Pläne ausgesprochen, Adolfas Ramanauskas, bekannt auch als Vanagas, einen der Anführer des anti­sowjetischen Widerstands in Litauen, in der Stadt mit einem Denkmal zu würdigen. Ramanauskas, der 1957 in der Sowjetunion hingerichtet wurde, hat­te den Tod von mehreren Hundert Men­schen zu verantworten. Titow nannte mit Bezug auf sowjetische Ermittlungsakten die Zahl 8 000. Daraufhin kam es zur Anzeige gegen Titow. Vor Gericht wurde gegen ihn unter anderem der Vorwurf der Verleumdung erhoben. Formal war das aber gar nicht Gegenstand der Verhandlung, auch wollte sich das Gericht nicht mit den historischen Gründen für die Kritik an einer Gedenktafel für den Täter Ramanauskas befassen. Die Tafel hängt inzwischen am Gebäude der Universität.

Kann man das als typischen Umgang mit Kritik an der staatlichen Erinnerungspolitik bezeichnen?
Es handelt sich um eine weitere Zuspit­zung der gängigen Praxis, eine Form der Zensur. Über Ramanauskas darf nicht schlecht gesprochen werden, weil er in die Fänge des sowjetischen NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, gemeint ist die Geheimpolizei des Innenministeriums zu Stalins Zeiten, Anm. d. Red.) geraten war. Wie viele andere wurde er 1991 rehabilitiert, da mit der Unabhängigkeit Litauens antisowjetische Vergehen keinen Straftatbestand mehr darstellten. Bei 180 Litauern, die in der Sowjetunion wegen Beteiligung am Holocaust vor Gericht standen, wurde die Rehabilitierung rückgängig gemacht. Aber Ramanauskas’ Akten hat seither nie jemand geprüft. Ich verstehe nicht, warum ein Abgeordneter die geltende Rechtslage nicht in Frage stellen darf.

Warum darf er das denn nicht?
Aus demselben Grund, aus dem die Journalistin und Schriftstellerin Rūta Vanagaitė ihr vor einigen Jahren erschienenes Buch »Mūsiškiai« (Die Unsrigen) nicht über den Buchhandel vertreiben kann. Sie hatte darin dargelegt, dass der litauische »Volksheld« Ramanauskas mit dem sowjetischen Geheimdienst kollaboriert und womöglich auch eigene Landsleute verraten habe. Das rief empörte Reaktionen hervor. Ihr Verlag kündigte den Vertrag und händigte ihr die gesamte Auflage aus. Es gab nicht einmal ein Gerichtsverfahren. Niemand verbietet der Au­torin, ihr Buch privat zu verkaufen, aber der Buchhandel weigert sich seither, es in den Vertrieb aufzunehmen. Vermutlich wurde auf den Verlag Druck ausgeübt, aber beweisen lässt sich das nicht.

Sie haben insbesondere zu Jonas Noreika recherchiert. Er war während der deutschen Besatzung Lei­­ter der Bezirksverwaltung in Šiauliai im Nordwesten Litauens und soll den Tod Tausender litauischer Juden mitverschuldet haben. Weil er gegen die sowjetische Besatzung Widerstand geleistet hat und 1947 von den Sowjets hingerichtet wurde, gilt er als Nationalheld. Er gehört ebenfalls nicht zu den bereits erwähnten 180 litauischen Tätern, oder?
Noreika wurde in der Sowjetunion nicht wegen Beteiligung am Judenmord an­geklagt, sondern lediglich zu seiner Tätigkeit für die deutschen Besatzer befragt. Damals sagte er aus, er habe sich um die Organisation der Ernte gekümmert. Dabei blieb es. Wer aufgrund des Dekrets von 1943 zur Rechenschaft gezogen wurde, das zur Mobilisierung bal­tischer Staatsangehöriger als Freiwillige für SS-Legionen diente, war den Ermittlungen nach zu urteilen zweifellos an Gräueltaten gegen Juden beteiligt. Solche Fälle gab es durchaus. Doch vorrangig befassten sich die sowjetischen Gerichte mit der Klärung, ob die wegen antisowjetischer Vergehen Angeklagten Komsomol-Angehörige oder Funktionäre umgebracht hatten.

Wieso haben Sie sich ausgerechnet mit Noreikas Geschichte so ausgiebig beschäftigt?
Erstmals stieß ich 1993 in der Zeitungsredaktion von Šiaulių kraštas, wo ich damals arbeitete, auf diesen Namen. Ein ehemaliger Ghettohäftling, Leiba Livshits, kam herein und hat sich mächtig darüber aufgeregt, dass über Noreika als einen von vielen litauischen Partisanen berichtet wird, obwohl auf sein Konto der Tod zahlreicher Juden gehe. Damals wurden alle möglichen Geschichten ausgegraben und in den Zeitungen abgedruckt. 1998 begann die Ehrung dieser Partisanen als Volkshelden, posthum haben etliche von ihnen Medaillen und Orden erhalten. Die Haltung der Ausgezeichneten zur jüdischen Bevölkerung war fast kein Thema. Mein erster Artikel zu Noreika erschien 2012. Damals begann ich mit intensiven Recherchen über den Holocaust in Litauen und erinnerte mich an die Episode über Noreika. Die Behaup­tungen Livshits’ lassen sich durch Berichte von Zeitzeugen verifizieren. So schrieb Aleksandras Pakalniškis, der eine Zeit lang in Noreikas Büro in Plungė tätig war, in seinen Memoiren, er sei Zeuge gewesen, wie Noreika deutschen Soldaten über die Ausführung eines Befehls Bericht erstattet habe, alle Juden in der Stadt zu töten. Etwa 1 800 Juden wurden im Juli 1941 in Plungė erschossen. Noreika begab sich danach nach Telšiai und dort passierte genau das Gleiche, nur sind die Vorkommnisse dort schlechter dokumentiert.

Lässt sich Noreikas Rolle stichhaltig durch schriftliche Dokumente belegen?
Anfang August 1941 wurde er zum Leiter der Bezirksverwaltung in Šiauliai befördert. Als solcher veranlasste er den Aufbau des Ghettos in Žagarė. Mir war bis dahin nur ein öffentliches Dokument bekannt, dem zufolge Noreika den Befehl dazu erteilt hatte. Als wir nach Belegen suchten, hatten, stießen wir in den Archiven der lokalen Verwaltungen auf über 100 weitere Dokumente, darunter Briefwechsel mit Verwaltungsangehörigen.

Worauf fußt die Argumentation des Genozidzentrums, das Noreika ehrt?
Das Zentrum vertritt die Ansicht, Noreika habe mit dem Aufbau des Ghettos in Žagarė nichts zu tun gehabt. Er habe lediglich eine litauische Übersetzung des Befehls eines deutschen Vorgesetzten angefertigt und seine Unterschrift daruntergesetzt. Außerdem gibt das Zentrum zu, dass Noreika für die Enteignung jüdischen Eigentums zuständig war. Alle vorhandenen Unterlagen weisen darauf hin, dass Noreika eine aktive Rolle beim Judenmord spielte und Juden in den sicheren Tod schickte. Aber das Genozidzentrum beharrt auf dem Standpunkt, dass Noreika keine Schuld trage, weil er selbst keine Erschießungen vorgenommen habe. Dabei besteht der Holocaust aus diversen Etappen und bereits die Anordnung zur Deportation in ein Ghetto macht den Unterzeichnenden zum Mittäter.
Grant Arthur Gochin, der Noreika für den Tod seiner Angehörigen in Mitverantwortung sieht, versuchte mit einer Klage vor Gericht zu erreichen, dass das Genozidzentrum in seinen Publikationen Noreikas bedeutende Rolle bei der Ermordung der litauischen Juden darstellen müsse. Das Zentrum wiederum redete sich vor dem Gericht damit heraus, dass durch die Veröffentlichungen der Institution für Gochin grundsätzlich keinerlei Nachteile entstünden. Es handelt sich übrigens um die erste Klage dieser Art eines Nachkommens jüdischer litauischer Überlebender.
Über mich teilte das Zentrum dem Gericht in einer schriftlichen Einschätzung mit, ich sei bekannt dafür, kontroverse Äußerungen zu tätigen, und trä­te als Experte für Landstreicherei und Bettelei in Erscheinung. Ich habe versucht, dagegen vorzugehen, aber solche Anschuldigungen gelten als freie Meinungsäußerung.

Gibt es derzeit eine reelle Chance, Einfluss auf die staatliche Erinnerungspolitik Litauens zu nehmen?
Das Genozidzentrum hat jedenfalls bereits mit einem Autoritätsverlust zu kämpfen. Zudem teilen nicht alle Historiker des Zentrums dessen offizielle Sichtweise. Veränderungen gehen sehr langsam vonstatten. Es gibt beispielsweise Kritik an einer Gedenktafel für Noreika an der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften. Der litauische Anwalt Stanislovas Tomas hat die Tafel Anfang April öffentlichkeitswirksam mit einem Hammer zerschlagen und wurde zu einer Geldbuße verurteilt. Jetzt hängt sie wieder an ihrem Platz.

An zahlreichen Orten in Litauen werden Synagogen wiederaufgebaut und restauriert. Wie verträgt sich das mit der Weigerung, Mitverantwortung für den Mord an den litauischen Juden zu übernehmen?
Das sind zwei voneinander getrennte Prozesse. Juden, die Litauen in einem positiven Licht erscheinen lassen, sind willkommen. Aber wenn sie Nachfragen zur Ermordung von Juden stellen, ist das nicht erwünscht. Die einzige Möglichkeit, etwas zu bewirken, ist, die Wahrheit über die damaligen Begebenheiten zu erzählen.


Evaldas Balčiūnas ist ein Publizist aus der litauischen Stadt Šiauliai. Mit seinen Recherchen und zahlreichen Veröffentlichungen zur Rolle von NS-Kollaborateuren trägt er zur Kritik an der staatlichen Erinnerungspolitik Litauens bei, die »Helden des nationalen Widerstands« praktisch unangreifbar macht. Ende März wies das Verwaltungsgericht in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine Klage gegen das staatliche Zentrum zur Erforschung von Genozid und Widerstand der litauischen Bevölkerung ab. Grant Arthur Gochin, ein in den USA ­lebender Nachfahre litauischer Juden, hatte mit der Klage versucht, gegen die durch das Genozidzentrum betrie­bene Glorifizierung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Jonas Noreika im heutigen Litauen vorzugehen. Gochin will nun vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Balčiūnas unterstützt ihn unter anderem mit seinen Recherchen zu Noreika.