Der Philosoph Michael Hirsch über Adornos berühmtesten Satz

»So tun, als ob«

Mit und gegen Adorno: »Es gibt ein richtiges Leben im Falschen«, sagt der Philosoph Michael Hirsch. Ein Gespräch über die Möglichkeit, das beschädigte Leben zu überwinden, und die Rolle, die Kritische Theorie dabei spielen kann.
Interview Von

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen« – das berühmte Diktum aus Theodor W. Adornos »Minima Moralia« bildet den Aufhänger Ihres Buches. Ganz programmatisch steht bei Ihnen die Antithese im Untertitel: »Es gibt ein richtiges Leben im Falschen«. Ihnen geht es aber nicht um eine Widerlegung oder abstrakte Zurückweisung, sondern um einen Eingriff in den Sinn dieses Satzes und seinen ­Gebrauch. Inwiefern bedarf es einer Korrektur?

Die ethische Frage nach dem guten oder richtigen Leben kann nicht einfach negativ beantwortet werden. Es gibt kein menschliches Leben, das nicht damit beschäftigt wäre, sich diese Frage zu stellen und irgendwelche Antworten darauf zu finden. Selbst in einer falsch eingerichteten Gesellschaft, in der es kaum Möglichkeiten gibt, das eigentlich richtige Leben zu leben, müssen wir als Einzelne versuchen, ein solches Leben zu führen.

Sie wenden sich damit auch gegen einen Gebrauch des Satzes, bei dem er zum Schutzschild gegen Veränderungen oder zum Beruhigungsmittel verkommt.

Bei Adorno handelt es sich natürlich vor allem um eine Polemik gegen die Schulphilosophie. Adorno greift eine Ethik an, die ihre Disziplin ­einfach weiter betreibt, als ob nichts wäre, die so tut, als könne man ­davon absehen, dass wir in einer falschen Gesellschaft leben. In der ­Geschichte der Adorno-Rezeption dominiert jedoch eine falsche ­Deutung, mit einem leicht defätistischen Unterton.

Ethik und Politik werden dabei voneinander abgetrennt und als isolierte Bereiche gegeneinander ausgespielt. Sie argumentieren stattdessen, dass wir beide Felder gleichzeitig bearbeiten müssen.

Die grundlegende Hypothese Adornos lautet, dass die kapitalistische Gesellschaft falsch eingerichtet ist, dass wir das aber jederzeit ändern könnten. Die Gesellschaft ist prinzipiell änderbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Unter den herrschenden falschen Bedingungen sind wir meist dazu verdammt, ein falsches Leben zu führen. Der Untertitel von »Minima Moralia« heißt ja nicht zufällig: ­»Reflexionen aus dem beschädigten Leben«. Wir schädigen uns gegenseitig und beschädigen uns selbst. Der eigentliche Widerspruch zwischen dem Politischen und dem Ethischen besteht in Folgendem: Radikale Politik erfordert, dass unsere ganze Energie in die theo­retische Durchdringung, in die politische Änderung und Neueinrichtung der jetzt noch falsch eingerichteten Gesellschaft fließt. Wenn das passiert, dann blenden wir aber das Spektrum des Ethischen leicht aus. Unsere Sinnbedürfnisse als Menschen, unsere eigene Lebenspraxis müssen wir dann implizit ausblenden. Wir werden sozusagen zu Inst­rumenten der theoretischen Durchdringung und der praktischen Änderung der Verhältnisse. Das ist eine Riesengefahr, weil wir dann das Ethische nahezu auslöschen. Stattdessen müssen wir genau den Widerspruch denken.

Was bedeutet das konkret für unser eigenes Leben?

Wir leben zugleich in zwei Welten. Eigentlich ist kein richtiges Leben möglich – also müssen wir uns anstrengen, im theoretischen Bereich der Konzeptualisierung und im politischen Bereich des Handelns andere Zustände gemeinsam herbeizuführen. Aber wir müssen genauso sehr auf dem ethischen Terrain des Ringens um ein gutes Leben arbeiten. Wir müssen, wie Adorno sagt, unser ­Leben zum hinfälligen Bild eines richtigen machen. Dieses Feld darf nicht vernachlässigt werden. Ich muss als Einzelner sozusagen so tun, als ob es auf mich ankäme, als ob ich Spielräume hätte, um ein anderes Leben zu führen als das herrschende.

Es geht also darum, die Alternative zu verweigern, die besagt: Zuerst das eigene Verhalten ändern, oder aber: zuerst auf die richtige Einrichtung der Gesellschaft hinwirken.

Es ist die Haupttendenz der jüngeren Gegenwart gewesen, beides per­manent gegeneinander auszuspielen. Das ist in feministischen Kontexten so, das ist bei Fragen der Identitätspolitik so. Bei sehr vielen Dingen wird immer so getan, als ob man sich dauernd entscheiden müsste zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern oder Schwerpunkten. Das ist ein Riesenfehler, denn man läuft damit in die Falle einer Spezialisierung der eigenen Tätigkeit oder des eigenen Wesens.

Sie werfen der institutionalisierten Intelligenz vor, die Dimension der eigenen Lebens- und Existenzweise berufsmäßig zu vernachlässigen. Die Akteure in den kulturellen und wissenschaftlichen ­Institutionen, schreiben Sie, arbeiten im eingespielten Modus der »kritischen Infragestellung«. Was wegfällt, sei der Gebrauch dieses Denkens.

Es gibt eine Tendenz zur Heuchelei in der progressiven Intelligenz. ­Einerseits hat man die zumindest partiell kritischen Arbeitsinhalte, andererseits aber völlig rückständige Arbeits- und Lebensweisen der Theoretikerinnen und Wissenschaftler. Es gibt eine Überfokussierung auf die Arbeitsinhalte, also auf Theorien und Schulenzugehörigkeiten, und ein Zurücktreten von Fragen nach Habitus und Berufsethos, also der ganzen Dimension der Arbeitsbedingungen und Produktionsverhältnisse bürgerlicher Kultur. Die haben sich ja rapide verschlechtert in den letzten Jahrzehnten. Man denke an die Situation in den Hochschulen, in den Zeitungen, im gesamten Kulturbereich: Zunahme von Mehrarbeit, Prekarität und Ungleichheit. Offensichtlich haben die Beteiligten versäumt, darauf zu achten, dass sie nicht nur ­Arbeitsinhalte vertreten – mein Stück, mein Buch, meine Theorie –, sondern dass es eben um das ganze Leben geht. Mit meinem falschen Leben reproduziere ich, wenn ich nicht aufpasse, dieses falsche System. Man muss die Errungenschaften des kritischen Denkens eben auch auf die eigenen Arbeitsfelder und die eigene Arbeitsweise anwenden – auf das ganze eigene Leben.

Auch bei der politischen Linken diagnostizieren Sie seit den siebziger und achtziger Jahren Defätismus, Lähmung, Zersplitterung und letztlich eine Neutralisierung der progressiven Kräfte. Das »Ende der großen Erzählungen« ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort für Sie. In dieser Situation schlagen Sie einen ideenpolitischen Schritt vor. ­Warum?

In Lyotards Buch »Das postmoderne Wissen«, das 1979 erschien, taucht ja diese Figur des »Endes der großen Erzählungen« auf. Es ist natürlich richtig, sich von einem bestimmten marxistischen Geschichtsdeterminismus oder von einer Geschichts­teleologie verabschiedet zu haben. Aber die Schlüsse, die daraus gezogen wurden, sind verheerend gewesen: das Einläuten eines vermeintlich nachideologischen Zeitalters. Heute sieht man: Das war eben die große ­Erzählung dieser Epoche, an deren Ende wir heute vielleicht leben. Die permanente Maskierung der Agenda ist exakt die Ideologie dieser Jahrzehnte gewesen. Darin besteht eben gerade der Theoriedefätismus: gar nicht zu sehen, wie stark Theorie eigentlich in die gesellschaftliche ­Debatte eingreift, mit ihren Begriffen und Ideen.

Gegen das »Ende der großen Erzählungen« setzen Sie eine ­Rehabilitierung des Fortschrittsbegriffs. Das ist die Kategorie ­gewesen, die als Erstes der Kritik unterzogen wurde. Sie sagen, der Fortschritt, um den es gehen muss, hat nicht so sehr mit ­neuen Erfindungen, neuen Technologien, neuen Objekten zu tun, sondern es geht um einen anderen Gebrauch. Alle wesentlichen ­Elemente stehen bereits zur Verfügung. Nun komme es auf so ­etwas an wie eine Logik des richtigen Gebrauchs.

Fortschritt hat noch gar nicht angefangen – obwohl mittlerweile alle Elemente für eine fortschrittliche Einrichtung der Gesellschaft vorhanden sind. Die Produktivkräfte, die materiellen Verhältnisse, die Institutionen des Rechtsstaats, die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, Versammlungsrechte, Arbeiterrechte, Sozialstaat – alle diese Errungenschaften, um gesellschaftliche substantielle Änderungen zum Besseren durchzusetzen, sind da – nicht für alle Menschen, aber für sehr viel mehr Menschen, als es früher der Fall gewesen ist –, aber irgendwie hat sich Fortschritt immer noch nicht ereignet. Das wäre aber jederzeit möglich. Durch unser Zutun und gewissermaßen auch durch so eine Art magisches Quentchen wäre jederzeit ein qualitativer Umschlag, ein ganz anderer Gebrauch all dieser Potentiale, die wir haben, möglich. Wir leben in einem Anachronismus. Es gibt unfassbare Überschüsse an Potentialen, an Möglichkeiten, an Reichtümern. Die sind nur falsch eingerichtet, falsch gebraucht, falsch justiert, die benutzen wir nicht auf die richtige Art und Weise. Wir könnten sie aber jederzeit anders benutzen.

Sie sagen also, bei der richtigen Gesellschaft geht es nicht um das völlig andere, Neue oder Unbekannte, sondern eher um eine Neuanordnung vorhandener Elemente. Kann man sagen, dass Sie damit »das messianische Licht«, in das die Dinge getaucht seien, das bei Adorno immer wieder auftaucht, diese minimale Verschiebung, durch die plötzlich ­alles anders erscheint, nicht von einer äußeren Instanz zu erwarten, sondern von der Art und Weise, wie wir in unserem Alltag Dinge gebrauchen?

Ja. Wobei ich nicht ausschließen würde, dass bei allen Dingen, die uns im Leben gelingen, doch noch so ein gewisses »Etwas« im Raum steht, ein winziger Zusatz, eine Art messianisches Ereignis. Das ist aber natürlich etwas Unverfügbares, das man nicht identifizieren oder antizipieren kann. Was verfügbar ist, sind unsere Übungen, unsere anderen ­Gebrauchsweisen der bestehenden Möglichkeiten und unsere politischen Aktionen. Das ist gewissermaßen die Ebene, wo wir als Einzelne und als Kollektive wirken können. Hier unterschätzen die meisten die Reichweite und Intensität ihrer eigenen Wirkungsmöglichkeiten immer noch. Es geht dabei um einen Blick auf das Konkrete, auf das, wie genau etwas gemacht ist und wie es uns erscheint. Damit ist eine Politisierung des eigenen Alltagslebens verbunden.

Das Alltägliche ist ja eigentlich der Bereich, den radikale Theorien gerne vernachlässigen. Dort, wo es ums Ganze geht, interessiert man sich eher für den großen Bruch, die totale Änderung. Über den zukünftigen Alltag schweigt man sich aus oder verhängt gleich ein Bilderverbot.

Der Alltag ist die Sphäre, in der sich alle gesellschaftlichen Änderungen letztlich konkret bewähren müssen. Nicht nur die Kunst ist, wie Adorno betont, dafür ein Verhaltensmodell, sondern eben auch die Theorie: Denken, Schreiben oder Miteinandersprechen. Sie schulen für andere Verhaltensdispositionen jenseits der zweckrationalen Welt, für die feinen Unterschiede im Alltag. Durch sie können wir lernen, in unserem täglichen Leben genauer auf geistige, ethische Qualitäten zu achten und nicht nur auf intellektuelle Outputs im Kulturbetrieb. Alle Ökonomie, sagt Marx, löst sich in Ökonomie der Zeit auf. Wie lange geht ein Tag, wie viel Zeit verwende ich wofür, für was nehme ich mir die Zeit, wie ist das gesellschaftlich determiniert, und wie kann man gemeinsam diese ­Determinationen fortschrittlich ändern? Freundschaft fällt meistens hinten runter, bestimmte andere ­Bedürfnisse auch. Auch bei den Intellektuellen.

Dennoch akzentuieren Sie das Modellhafte der theoretischen oder intellektuellen Arbeit, und zwar letztlich im Sinne der ­Lebensform, die dabei konstruiert wird. Inwiefern schafft die intellektuelle Arbeit eine exemplarische, modellhafte Lebensform?

Exemplarisch an der intellektuellen Lebensweise und Arbeitsform ist ­etwas, das auf den Marxschen Begriff des Klassenbewusstseins zurückgeht. Eine Klasse oder eine Gruppe von Menschen fängt erst dann an, emanzipatorisch zu werden, wenn sie nicht länger identisch ist mit ­ihrem soziologischen Subs­trat. Erst durch eine Reflexion der eigenen ­potenziell emanzipatorischen Rolle kann ich überhaupt eine emanzi­patorische Wirkung entfalten – und nicht etwa dadurch, dass mir gesellschaftlich eine kritische Funktion zugeschrieben wird, weil ich etwa Journalist bin oder Hochschulprofessor. Nein, erst dadurch, dass ich mir klarmache: Das mögliche andere Leben, das partiell befreit ist von kapitalistischer Lohnarbeit und Warenproduktion, habe ich ja gewissermaßen schon am Wickel. Das heißt, ich tue hier etwas, das eigentlich viel mehr Leute können sollten. Und das gilt es auszubauen und zu universalisieren. Das ist ja die eigentliche Programmatik der Marxschen Arbeits­utopie, der Angriff auf die Lohnarbeit. Das Modellhafte, Exemplarische besteht darin, dass die Tätigkeit der Intellektuellen im weitesten Sinne ­einerseits die Herbeiführung einer möglichen anderen, emanzipierten Gesellschaft ist, aber andererseits ­natürlich gleichzeitig auch schon deren Anfang, der Anfang eines richtigen Lebens selbst. Modellhaft bin ich dadurch, dass ich möglicherweise schon jetzt versuche, so zu leben, wie es in Zukunft vielleicht einmal alle tun könnten.

Die von Ihnen geforderte Änderung des Alltags, die Einübung anderer Gewohnheiten berührt das problematische Feld der ­Erziehung.

Der ganze Komplex der Erziehung ist essentiell. Bei Marcuse gibt es ja das Konzept der »falschen Bedürfnisse«. Das hat Marcuse natürlich harte Kritik eingebracht, weil das eine implizit autoritäre, elitäre oder pater­nalistische Konzeption ist. Das ist schon immer ein großes philosophisches Problem: anderen etwas an­zusinnen. Ich glaube jedoch, dass es ein Fehler ist, Angst vor der Autoritätsposition zu haben. In Wirklichkeit finden ja andauernd, in jeder Sekunde Kulturkämpfe statt, in der Gesellschaft, aber auch in jeder Beziehung, jedem Freundesnetzwerk, jedem Haushalt. Man ringt dabei um die »Umwertung der Werte«, also um das, was Bourdieu Habitus nennt, neue Normalitäten und Verhaltensdispositionen. Die Frage ist nur, mit welcher Idee im Hintergrund wirke ich auf mich selbst und die anderen ein. Die ganze progressive Arbeit besteht eben darin, jetzt noch minori­täre Positionen und Verhaltensweisen potenziell mehrheits- oder anschlussfähig zu machen.

Schon damals stand Marcuse mit seiner rigiden Form der Bestimmung eines allgemeinen Interesses und von richtigen und falschen Bedürfnissen eher am Rande der Debatte. Wie müssen Intellektuelle heute mit diesem Problem umgehen?

Ich glaube, dass man ohne eine gewisse theoretische Rigidität nicht auskommt. Man muss sie dann in einem zweiten Moment natürlich geschmeidiger machen und anpassen, um nicht zu ihrem Opfer zu werden – sei es, indem man selbst verknöchert oder zu eng wird, sei es, dass die anderen einen überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Man kommt aber um das prinzipielle Problem der Verall­gemeinerbarkeit von Handlungen nicht herum. Warum sollte das beispielsweise nur auf ökologische Dinge beschränkt sein? Deswegen ist das die eigentliche Formel für alle politischen Kämpfe. Bourdieu hat das auch so definiert: Der Gegenstand der Politik ist der Kampf um die Entscheidung der Frage, wessen Interessen als allgemein gelten können.

Michael Hirsch: Richtig falsch. Es gibt ein richtiges Leben im Falschen. Textem-Verlag, Hamburg 2019, 192 Seiten, 16 Euro

Buchpräsentation und Diskussion mit dem Autor Michael Hirsch und Kristina Flint am 26. September um 20 Uhr in Hamburg im Golden Pudel Club