Brasiliens Weg in den Faschismus

»Die Demokratie ist implodiert«

Márcia Tiburi, Schriftstellerin und Philosophin, über Brasiliens Weg in den Faschismus und ihre Verfolgung als Kritikerin des Autoritarismus.
Interview Von

Vor einem Jahr, im Oktober 2018, wurde der Rechtsextreme Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Sie beschäftigen sich mit Kritischer Theorie. Hilft das, das heutige Brasilien zu verstehen?
1950 erschienen die »Studien zum autoritären Charakter«. Dort entwirft Adorno neun Komponenten zur Messung der Neigung zum Faschismus – die F-Skala. Alle Punkte passen, um Brasilien unter Bolsonaro zu charakterisieren. Auch die »Dialektik der Aufklärung« hilft zu verstehen, was derzeit in Brasilien passiert. Gerade das Ka­pitel zur Kulturindustrie ist sehr aufschlussreich. Die technologischen Möglichkeiten haben sich verändert. Bei Adorno ging es vor allem um Radio und Kino. Heutzutage steht das Internet im Vordergrund – und neue, scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation.
Viele Menschen meinen, dass es übertrieben sei, in Brasilien von Faschismus zu sprechen. Es gebe ja immer noch ein Parlament und freie Wahlen.
Ich glaube, dass diese Menschen einfach die Realität verdrängen. Bolsonaro ist ein Faschist, eine autoritäre Persönlichkeit, manisch, ignorant, ohne jegliche Intelligenz. Aber in einem Punkt ist er sehr clever: Er weiß, dass der Hassdiskurs die Massen bewegt. Der Autoritarismus in Brasilien kam durch Wahlen an die Macht – und auf demokratischem Weg wird nun die Demokratie abgebaut. Man kann sagen: Die Demokratie in Brasilien ist implodiert.

Befindet sich Brasilien also in einer Diktatur?
Ja, in einer informellen Diktatur unter digitalen Voraussetzungen. Anders gesagt: eine Diktatur in Zeiten des Internets. In früheren Diktaturen war es das Fernsehen, das steuerte und den Menschen das Gehirn wusch.

Wie erklären Sie sich den Erfolg von Bolsonaro?
Bolsonaro hat mit seinen Aussagen, die viele einfach nur für lächerlich hielten, einen Schleier erzeugt, der den aufkommenden Faschismus in Brasilien verdeckte. Je absurder und verrückter seine Thesen waren, desto mehr profitierte er davon. Das ist heutzutage eine Taktik von Rechten weltweit. Bekannt wurde diese Art der Politik durch Silvio Berlusconi in Italien – deshalb spreche ich auch von einer Berlusconisierung der Politik.

Ist »lächerlich« wirklich das richtige Wort, um die Aussagen von Bolsonaro zu charakterisieren?
Zu Anfang ja. Da hat man sich eher fremdgeschämt. Und lange Zeit wurde Bolsonaro nicht ernst genommen. Für viele war er nur ein Dummkopf und Spinner. Dass er die Wahl gewinnen würde, war unvorstellbar für die klügsten Analysten unseres Landes. Doch die Absurdität wurde das Mittel, eine uninformierte Bevölkerung zu erreichen, und hat Bolsonaro am Ende zum Sieg verholfen.