Eine Vorstellung der Arbeiten des Historikers Mark Roseman, der über den Widerstand des »Bunds - Gemeinschaft für sozialistisches Leben« forscht

Widerstand durch die Blume

Die Organisation »Der Bund – Gemeinschaft für sozialistisches Leben« half Juden, der NS-Verfolgung zu entkommen. Dem britischen Historiker Mark Roseman ist es zu verdanken, dass die Geschichte der kleinen Gruppe nicht in Vergessenheit geraten ist.

Essen, 10. November 1938. Mit einem Blumenstrauß will Tove Gerson die Heinemanns erfreuen. Sie findet das ältere Ehepaar verängstigt inmitten von Glasscherben und verbrannten Gemälden vor. Die Heinemanns sind Juden. Es ist der Tag nach dem »Reichskristallnacht« genannten Pogrom gegen die jüdische Minderheit im Deutschen Reich. Tove Gerson möchte Anteilnahme zeigen und den Eheleuten ihre Solidarität bekunden. Die Heinemanns hatte Gerson über ihre Schwiegereltern kennengelernt und war bei einigen Kammerkonzerten zu Gast, zu denen das Ehepaar in sein Haus eingeladen hatte.
Gerson gehörte dem »Bund – Gemeinschaft für sozialistisches Leben« an. Der Bund wurde 1924 von dem in Essen tätigen Lehrer Artur Jacobs gegründet und unterhielt Ortsgruppen in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets. Die Organisation hatte nie mehr als rund 200 Mitglieder.

Programmatisch beriefen sich die Bundisten auf Marx und Kant, darüber hinaus war die »Körperbildung« ein wichtiges Element. Mit Gymnastik und revolutionären Formen des Tanzes wollten sich die Anhänger von den Zwängen der Arbeitsgesellschaft befreien. Der britische Historiker Mark Roseman beschreibt die Gruppe als Verbindung »idealistischer Gemüter«, die sich in der »Weimarer Alternativszene« getummelt hatten und auf die Brutalität der NS-Herrschaft denkbar schlecht vorbereitet waren. Dennoch gelang es der Organisation, im »Dritten Reich« zu überleben und Juden und Jüdinnen das Leben zu retten.

»Es war eine extrem mobilisierte Gesellschaft. Man musste seine Gesinnung täglich zeigen, sei es bei Sammlungen des Winterhilfswerks oder durch den erhobenen Arm. Insofern konnten auch kleine Gesten gefährlich werden.« Mark Roseman

Kann man das Engagement der Hausfrau Tove Gerson deshalb schon als Widerstand begreifen? Oder handelte es sich lediglich um eine, wenngleich wichtige, solidarische Geste? »Man muss da schon Unterschiede machen«, sagt Roseman. »Offene Widerstandsformen waren mit einem viel höheren Risiko verbunden und hatten oft verheerende Folgen. Dennoch war es auch enorm riskant, kleinere, bescheidenere Schritte zu machen. Es war eine extrem mobilisierte Gesellschaft – man musste seine Gesinnung täglich zeigen, sei es bei Sammlungen des Winterhilfswerks oder durch den erhobenen Arm. Insofern konnten auch kleine Gesten gefährlich werden.« Der Fall Tove Gerson macht deutlich, welcher Mut dazugehörte, verfolgten Juden beizustehen, und sei es auch nur in Form eines Blumengrußes. Vorbei an Nachbarn, die hinter der Gardine hervorlugten, vorbei am tobenden Mob musste sich die zierliche Frau ihren Weg bahnen. Sie wurde angebrüllt und zur Rede gestellt, warum sie »den Juden Blumen bringt«. Mitglieder des Bundes zeigten solche Gesten mehr als nur einmal.

Wahrscheinlich wäre der Bund, der auch Jahrzehnte nach Kriegsende fortbestand, längst in Vergessenheit geraten, wenn sich nicht der in den USA lehrende Roseman des Themas angenommen hätte. Er erforscht die Geschichte der kleinen Organisation seit rund 20 Jahren. 2002 schildert er in dem Buch »In einem unbewachten Augenblick« die Geschichte von Marianne Strauss, einer Jüdin, die von der Gruppe versteckt und gerettet wurde. Die Geschichte, die Roseman in seinem neuen Buch »Du bist nicht ganz verlassen« aufgeschrieben hat, galt lange nicht als Heldengeschichte. Der Bund unternahm keine spektakulären Widerstandsaktionen. In der öffentlichen Wahrnehmung der Nachkriegszeit wurde nur der militärische Widerstand beachtet; der Bund initiierte keine Proteste, verübte keine Sabotage oder Attentate. ­Seine Mitglieder versuchten, möglichst unauffällig zu leben, ihre Kinder gingen zur Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädel; die Frauen entsprachen den Rollenvorstellungen der damaligen Zeit, die Männer leisteten ihren Dienst in der Wehrmacht und desertierten nicht. Regelmäßig traf man sich zu Diskussionsabenden und Ausflügen. Denunziation durch Nachbarn bedeutete eine ständige Gefahr, und die ­Gestapo hatte die Gruppe stets im Auge. Seiner Zerschlagung konnte der Bund jedoch entgehen, Todesurteile und KZ-Haft wurden gegen seine Mitglieder nicht verhängt. »Geholfen haben dem Bund eigene Immobilien, in denen man sich treffen konnte, und seine Leidenschaft für die Gymnastik, die ebenfalls vom Regime propagiert wurde«, sagt Roseman.

Das Netzwerk des Bundes organisierte in den Jahren nach 1938 immer weiter reichende Unterstützung für Juden. Roseman schätzt, dass die Mitglieder in den vierziger Jahren rund 1 000 Päckchen mit Lebensmitteln, Kleidung und Pflegeprodukten an deportierte Juden verschickten. »Bis weit in die vierziger Jahre hinein kamen die Pakete in bestimmten Lagern sogar nachweislich bei den Em­p­fängern an«, so der Historiker. Überlebende berichteten nach ihrer Befreiung, wie wichtig die Päckchen für sie waren. Es ging nicht nur um die Versorgung mit Lebensnotwen­digem, sondern darum, welche Botschaft damit verbunden war. Die Botschaft lautete: »Wir sind da, wir denken an dich, du bist nicht ganz verlassen.« So formulierte es die Überlebende Isa Hermanns kurz nach dem Krieg in einem Dankesbrief an ein Mitglied des Bundes. Ob das Versenden von Päckchen als Widerstandsakt angesehen werden kann, war lange umstritten. Wenn man jedoch bedenkt, was es im Deutschland des Jahres 1942 bedeutete, auf einem Postamt ein Päckchen für einen de­portierten Juden aufzugeben, wird schnell klar, welchen Mut die Bundisten aufbringen mussten. Schließlich konnte die Unterstützung von Juden mit KZ-Haft geahndet werden.

In den letzten Jahren des Krieges begann der Bund damit, Juden zu verstecken. Man kann heute anhand der Quellen und Überlieferungen die Lebensgeschichte von acht Jüdinnen und Juden nachzeichnen, die von Mitgliedern des Bundes versteckt überlebten. Dabei handelte es sich nicht nur um verfolgte jüdische Mitglieder der Gruppe, sondern auch um Hilfebedürftige, die der Organisation nicht angehörten.

Nach dem Krieg mussten die Gruppenmitglieder teilweise Jahrzehnte dafür kämpfen, dass ihr Engagement gewürdigt wurde. Die junge BRD ­verwehrte den Bundisten die Anerkennung als Verfolgte im Nationalsozialismus oder gar als Widerstandskämpfer. In Publikationen zum ­Widerstand im »Dritten Reich« fand die Organisation zumeist keine Erwähnung. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem tat sich schwer damit, die Aktionen zu würdigen, da einige Mitglieder in sogenannten privilegierten Mischehen gelebt hatten. Juden, die Juden halfen, konnten satzungsgemäß nicht als »Gerechte unter den Völkern« geehrt werden. Diese Anerkennung wurde einigen Mitgliedern jedoch posthum im Jahr 2005 zuteil. Seitdem wird die Arbeit der sozialistischen Gruppe auch hierzulande stärker anerkannt. Die Recherchen Mark Rosemans helfen, ihre Geschichte zu bewahren.

Mark Roseman: Du bist nicht ganz ver­lassen. Eine Geschichte von Rettung und ­Widerstand im Nationalsozialismus.
Aus dem Englischen von Stephan Pauli. DVA, München 2020, 448 Seiten, 25 Euro

 

Mark Roseman, 1958 in London geboren, ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Jewish Studies Program an der ­Indiana University in Bloomington / USA. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Er hat zahlreiche Bücher zur jüngeren deutschen Geschichte veröffentlicht, darunter »Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte«. 2002 erschien sein vielfach ausgezeichnetes Buch »In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund«.