Im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Klaus Vondung über die gegenwärtige Bedeutung von Weltuntergangs­vorstellungen

»Die Apokalypse ist ein Deutungsmittel«

Gesellschaftliche Krisen werden oftmals in apokalyptischen Szenarien verarbeitet. Beschreibungen von Umweltzerstörung, der Klimakrise und jüngst der Covid-19-Pandemie greifen auf Bilder des Weltuntergangs zurück. Diese Deutung stammt ursprünglich aus einer religiösen Tradition, hat aber in der Moderne nicht an Faszination verloren.
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Derzeit ist es vor allem der Klimawandel, der Ängste vor einem Ende der Welt aufkommen lässt. Was bedeutet eigentlich dieses ursprünglich religiöse Motiv in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft?

Die Apokalypse ist kein Ereignis, sondern ein Deutungsmittel. Sie deutet bestimmte Ereignisse, die als katastrophisch empfunden werden, und solche, die für die Zukunft erwartet oder befürchtet werden. In der religiösen Tradition apokalyptischer Deutungen, die an die Offenbarung des Johannes anknüpfte, greift Gott in die Geschichte ein. Er wird die verkommene »alte Welt« vernichten und mit ihr den »bösen Feind«, der das Verderben verschuldet hat, und er wird Erlösung bringen im himmlischen Paradies eines »neuen Jerusalem«. Diese Struktur – Erlösung durch Vernichtung – kennzeichnet auch apokalyptische Deutungen der Moderne. Hier sind es nun die Menschen selbst, die die »Wendung aller Dinge zum Paradies« herbeiführen und eine »neue Welt« schaffen sollten, wie Ernst Bloch nach dem Ersten Weltkrieg und unter dem Eindruck der Revolution in Russland hoffte.

»Die grauenvollen und grandiosen Beschreibungen des Weltuntergangs können Angstlust erzeugen.«

Zu den modernen gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen apokalyptische Vorstellungen auftauchten, gehören der Erste Weltkrieg, die Atombombe, eine als unbeherrschbar empfundene Technik und ab den siebziger Jahren Umweltkatastrophen. Wie erklärt sich die Beharrlichkeit der Rede von der Apokalypse?

Mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki begann ein neues Zeitalter, wie Günther Anders 1959 feststellte – das Zeitalter, in dem wir die ganze Erde in ein Hiroshima verwandeln können. Die erste Hälfte des apokalyptischen Dramas, die Vernichtung der Welt, können wir nun selbst vollbringen – aber nur die erste Hälfte. Wenn die Erde durch einen globalen nuklearen Krieg zerstört ist, kann auch kein irdisches Paradies errichtet werden; die zweite Hälfte der apokalyptischen ­Vision verflüchtigte sich. Was blieb, war allein der Untergang. Seither wird mit der Apokalypse nur noch Tod und Vernichtung assoziiert, sei es durch Krieg oder durch Umweltzerstörung und Klimawandel. Die vielseitige Anwendbarkeit in unterschiedlichen historischen Konstellationen trägt zur fortdauernden Attraktivität des Begriffs der Apokalypse bei. Konsistent ist die Struktur des apokalyptischen Deutungsmusters. Die Inhalte jedoch, die dramatis personae, die Sachverhalte und Ereignisse können sich den historischen Gegebenheiten entsprechend ändern.

Einige Ökomarxisten wie zum Beispiel Andreas Malm verbinden die Coronakrise und die Klimakrise im Kontext kapitalistischer Akkumulationsdynamik zu einem Katastrophenszenario, das auch apokalyptische Bilder nutzt. Welche Funktion erfüllt die sprachliche Wucht solcher Bilder in der Moderne?

In der klassischen marxistischen Geschichtsdeutung ist das Proletariat der Protagonist im apokalyptischen welthistorischen Drama, das mit dem finalen Sieg über die kapitalistische Gesellschaftsordnung die klassenlose Gesellschaft herbeiführen wird. Dieses Drama wandelte sich aufgrund veränderter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse. Durch den Klimawandel und neuerdings die Covid-19-Pandemie erhielt es unerwartete neue Dimensionen. Es stellt sich die Frage, ob säkulare apokalyptische Deutungen des Geschichtsverlaufs – Erlösung durch Vernichtung der alten korrupten Welt und eines historisch agierenden »bösen Feindes« – überhaupt noch anwendbar sind. Dass sie immer noch gepflegt werden, allerdings nicht mehr so häufig, liegt auch an der Faszination, die Untergangsszenarien ausüben. Die grauenvollen und grandiosen Beschreibungen des Weltuntergangs in der Offenbarung des Johannes können Angstlust erzeugen, ebenso wie die von dieser Schrift inspirierten Illustrationen, von Albrecht Dürers Zyklus »Die Apokalypse« bis zu den Katastrophenfilmen unserer Tage.

In der Ökologiebewegung gilt als Ausweg bei all den düsteren Zukunftsprognosen nicht selten der gesellschaftliche Rückzug: Konsumverzicht, Subsistenz- und Alternativwirtschaft. Das sind recht kleinteilige Lösungsvorschläge gemessen an einer als übermächtig empfundenen Zerstörung. Welche politischen ­Auswege lässt einem die Vorstellung des Weltuntergangs?

In den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem nach dessen Ende, gab es schon einmal Bewegungen, die als Reaktion auf die Industrialisierung und deren negative Auswirkungen Reformen nicht nur propagierten, sondern auch zu verwirklichen versuchten, beispielsweise in ländlichen Kommunen und in Siedlungsgenossenschaften als alternativer Lebens- und Wirtschaftsform, mit biodynamischem Gemüseanbau, vegetarischer Ernährung, Freikörperkultur und Naturheilkunde. Die Mitglieder solcher lebensreformerischer Gruppierungen konnten wahrscheinlich ihrem Leben existentiellen Sinn verleihen, aber gesamtgesellschaftlich gesehen führten sie ein Nischendasein. Ähnlich würde ich heutige Rückzugsbewegungen sehen. Katechon, das Aufhalten des Untergangs, ist nur im großen Maßstab möglich.

Ihr Buch »Die Apokalypse in Deutschland« erschien 1988 nach den Protesten der deutschen Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen, die auch mit der Ökologiebewegung in Verbindung stand. Sehen Sie eine spezifische Tradition apokalyptischen Denkens in Deutschland?

1988 wagte mein Buch die These, Deutschland erscheine in besonderem Maß als Land der Apokalypse – mit der Einschränkung, dass nach den Deutschen vor allem die US-Amerikaner eine Tendenz zu apokalyptischer Weltsicht zeigen. Mein Buch untersuchte die deutsche apokalyptische Tradition, von den Befreiungskriegen gegen Napoleon als dem »bösen Feind«, über die Deutungen des Ersten Weltkriegs als apokalyptisches Ereignis, in dem Deutschland die Welt erlösen sollte, über den Nationalsozialismus mit dem Versuch, die Juden als »bösen Feind der Menschheit« (Hitler) auszulöschen, bis hin zu den »kupierten Apokalypsen«, wie ich in den achtziger Jahren die ­Untergangsszenarien ohne Erlösungshoffnung nannte. Inzwischen haben sich die Dinge etwas verschoben. 2011 bezeichneten nicht nur zahlreiche Presseorgane, vom Stern bis zum Spiegel, die Katastrophe von Fukushima als Apokalypse, sondern auch Politiker, von der Bundeskanzlerin über Horst Seehofer bis zu Christian Lindner. Und diese Rede von der Apokalypse zog den Beschluss nach sich, aus der Atomenergie auszusteigen.

Eine Umfrage der französischen Fondation Jean Jaurès ergab unlängst, dass Katastrophenszenarien und Ängste vor einem gesellschaftlichen Zusammenbruch derzeit in Frankreich, Italien und Großbritannien viel verbreiteter seien als in Deutschland. Welche Rolle spielen die jeweils unterschiedlichen, auch unterschiedlich schweren Ausprägungen sozioökonomischer Krisen?

Obwohl Fukushima am anderen Ende der Welt liegt und die Katastrophe mit dem GAU im dortigen Atomkraftwerk uns in Deutschland nicht direkt betraf, waren in der Berichterstattung und in den Äußerungen von Politikern ­apokalyptische Horrorszenarien notorisch. Die Covid-19-Pandemie betrifft uns unmittelbar. Ich konnte aber nicht beobachten, dass für sie der Begriff der Apokalypse gebraucht wird. Auch Ängste vor gesellschaftlichem Zusammenbruch scheinen nicht virulent zu sein. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich schon darin zu sehen, dass das Gesundheitssystem und auch die Wirtschaft in Deutschland stabiler sind als in anderen Ländern. Und was die apokalyptischen Deutungen anlangt: Vielleicht ist in Deutschland im Vergleich zu früheren Zeiten eine gewisse Apokalypse-Müdigkeit eingekehrt.

 

Klaus Vondung war Professor für Germanistik und Neuere Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Er ist der Autor der Bücher »Die Apokalypse in Deutschland« (1988), »Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus« (2013) und »Apokalypse ohne Ende« (2018). Die »Jungle World« sprach mit ihm über die Bedeutung ursprünglich religiös motivierter Weltuntergangsvorstellungen in der Moderne und der Gegenwart.