Reiche Staaten haben sich bei ­Covid-19-Impfstoffen vorgedrängelt

Die Armen zuletzt

Was kümmert mich der Dax Von

Der Untergang der »Titanic« am 15. April 1912 gilt bis heute als anschauliches Beispiel für die Risiken der Klassengesellschaft für Arme. Die Passagiere der unteren Decks hatten wesentlich schlechtere Chancen, einen Platz in einem der Rettungsboote zu ergattern. Wer es bis nach oben geschafft hatte, konnte allerdings mit Gleichbehandlung rechnen, man hielt sich an den patriarchalen Ehrenkodex »Frauen und Kinder zuerst«.

Verglichen mit der Art und Weise, wie der Impfstoff in der Covid-19-Pandemie verteilt wird, kann das Verhalten bei dieser Schiffskatastrophe daher als moralisch vorbildlich gelten. Wenn eine Regierung gescholten wird, dann dafür, dass sie es bei der Impfstoffbeschaffung für die Nation an Rücksichtslosigkeit und Kapitaleinsatz hat mangeln lassen. Es wird sogar Impfstoff über das für die Immunisierung der Landesbevölkerung nötige Maß hinaus bestellt, so hat sich Deutschland 410 Millionen Impfdosen vertraglich gesichert. Was beim Horten von Klopapier als harmlose Marotte erscheint, hat beim Horten von Vakzinen tödliche Folgen. Nach den derzeitigen Prognosen kann in den ärmsten Staaten der Welt erst 2023 mit Massenimpfungen begonnen werden. Ende Januar waren etwas mehr als 80 Millionen Impfdosen verabreicht worden – und von diesen exakt 55 in den ärmsten Ländern, genauer gesagt in einem, das ein gutes Beispiel dafür gibt, dass es auch auf den unteren Decks nicht solidarisch zugeht.

Die Bevölkerung solle »sich freuen«, verkündete Guineas Industrieminister Tibou Camara anlässlich der im Fernsehen übertragenen Impfung der politischen Führung Ende Dezember, da ihr Land ein Empfänger des knappen und begehrten Vakzins sei. Die Freude könnte allerdings dadurch getrübt werden, dass seitdem so etwas wie eine Impfkampagne nicht einmal begonnen hat. Entweder hat die guineische Regierung mit einer Lieferung des dort verwendeten russischen Impfstoffs Sputnik V gerechnet, die wegen Produk­tionsproblemen (Der Wettlauf zur Immunisierung) nicht eintraf, oder es handelte es sich um eine bewusste Machtdemonstra­tion. Als sicher kann jedenfalls gelten, dass Impfstoffe diskret ihren Weg zu den Reichen und Mächtigen auch in den ärmsten Ländern finden werden.

Der passende Ehrenkodex für die Pandemiebekämpfung wäre: Risikogruppen sowie Krankenhaus-und Pflegepersonal zuerst, und zwar global. Die unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation angeführte pragmatische Begründung für ein solches Vorgehen, der zufolge niemand sicher ist, bevor alle sicher sind, trifft bedauerlicherweise nicht zu. Gibt es in den reichen Ländern keine Todesfälle und schweren Krankheitsverläufe mehr, ist Covid-19 nur noch ein Ärgernis. Der Impfnationalismus hat die Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung der reichen Länder; hier zeigt sich einmal mehr, wie schnell der vermeintlich harmlose Patriotismus zur Rechtfertigung eines tödlichen Konkurrenzkampfs werden kann.