Homestory

Homestory #19

Einige Redakteurinnen und -redakteure Ihrer Lieblingszeitung staunten nicht schlecht, als am 1. Mai in den Neuköllner Straßen nicht nur rote Fahnen zum »Kampftag der Arbeiterklasse«, sondern sehr viele schwarzweißgrünrote Palästinaflaggen zu sehen waren. ­Eigentlich konnte das niemanden überraschen, da es bereits in früheren Jahren zu antisemitischen Übergriffen auf der »revolutionären« 1. Mai-Demonstration gekommen war, dennoch waren die israelfeindlichen Aufrufe zur »Intifada« schwer zu ertragen und ein Grund, die Demonstration zu verlassen. Umso erleichterter war die Redaktion, als sie von der Absage der am 8. Mai geplanten antisemitischen »al-Quds-Demonstration« hörte.

Doch zu früh gefreut. An sich hätte man am 8. Mai, der »Tag der Befreiung« ist, mit trinkseligen Russen am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park entspannt auf die Niederlage Nazideutschlands anstoßen können. Doch ein Redakteur trübte die gute Stimmung mit der Nachricht, dass in Hannover, Frankfurt am Main, Nürnberg und Bremen spontane Kundgebungen für die »Befreiung« Jerusalems – »al-Quds« lautet der arabische Name der Stadt – stattfänden.

Obwohl die Zahl der jeweils Teilnehmenden überschaubar blieb und bei weitem nicht an die über Taƒusend bei der jährlichen Berliner Demonstrationen heranreichte, war auf Plakaten und in Sprechchören von dem »Terrorismus«, dem »Rassismus« und der »Apartheid« des einzigen demokratischen Staats im Nahen Osten die Rede. Ob an diesen Demonstrationen auch linke Gruppen beteiligt ­waren, ist der Redaktion nicht bekannt. Zudem gab es für den »al-Quds-Tag« einen Tag später, am 9. Mai, so etwas wie eine Ersatzveranstaltung. Mehrere Hundert Menschen protestierten auf der Neuköllner Sonnenallee gegen die geplanten Zwangsräumungen von Wohnungen arabischer Familien im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Ein willkommener Anlass für Israelfeinde, antisemitische Parolen wie »Kindermörder Israel« zu skandieren. Zehn Personen wurden dem Polizeibericht zufolge wegen schweren Landfriedensbruchs, Widerstands und tätlichen Angriffs gegen Voll­streckungsbeamte festgenommen. Zu dieser Demonstration haben auch jene linken Gruppen aufgerufen, die bereits am 1. Mai so stolz auf ihren »internationalistischen« beziehungsweise antizionistischen Block gewesen waren. Am 15. Mai soll es in verschiedenen deutschen Städten mit Demonstrationen zum »Nakba Day« weitergehen.

Gewinnen pseudolinke Berufspalästinenser wieder an Einfluss, nachdem man eine Zeitlang die Hoffnung hegen konnte, dass sich wenigstens gegen die obsessive Israelfeindschaft vermehrt Widerspruch regt? Ein Redakteur der Boomer-Generation mag von dem Thema eigentlich nichts mehr hören. »Man kommt sich ja vor wie Cato der Ältere, aber der hatte am Ende wenigstens Erfolg. Mit ›Antisemitismus est delendam‹ ist es leider nicht so einfach.« Das Thema wird die Redaktion jedenfalls weiter beschäftigen.